Und spielst du mit Göttern, so spielst du mit dem Feuer (3)

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Nie zuvor hatte sie sich derartig herausgefordert gefühlt - als stünde sie vor einer großen Prüfung, bei der man sie genauestens beobachtete. Wie zum Beweis musterten vielgestaltigen Gottheiten sie spürbar, als sie den Löwen durch die gebildete Gasse folgte, und sie straffte die Schultern. Ihre innere Stimme riet ihr, jetzt keine Schwäche zu zeigen; keine Verunsicherung, keine Scham.

"Ihr bringt mich zu Torai", warf sie ruhig ein und wartete auf die Bestätigung, als sie die Menge hinter sich ließen und auf die Empore zu gingen. Die Löwen schwiegen und schritten weiter voran, kamen direkt auf die Saalwand zu und liefen unbeirrt weiter. Sie marschierten einfach durch die Wand hindurch, als handelte es sich dabei nicht um massives Gestein sondern um einen optischen Tarnvorhang. Als Chihiro ihren Blick für die übernatürliche Grenze schärfte (wie sie es schon längst hätte tun sollen) erkannte sie auch den magischen Schleier, der darüber lag - tatsächlich war die Wand nur eine Illusion, ähnlich der Barriere, die sie mit Haku überwunden hatte.

Haku, ging es durch ihren Kopf, doch sie verdrängte die in ihrem Herzen brennende Sorge, die in ihrem Inneren mit dem Vorsatz rang, jetzt keinen Fehler zu begehen - wie etwa der Angst um ihn nachzugeben, blind hinauszustürmen und nach ihm zu suchen, um sich seiner Unversehrtheit zu vergewissern. Doch das durfte sie nicht. Nicht jetzt, wo sie den entscheidenden Antworten, die alles für Haku's weiteres Leben bedeuteten konnten, so nahe war.

Die Löwen führten sie auf die andere Seite, wo absolute Stille herrschte. Sie fand sich augenblicklich auf der Empore wieder, konnte hinabschauen auf die Gäste, die sich wieder der Musik und ihrem unbekümmerten Miteinander widmeten, als hätte es nie eine Unterbrechung gegeben. Doch kein Laut drang zu ihr hinüber, als wäre die Empore nicht nur vor unerwünschten Blicken, sondern auch vor Lauschern geschützt. Chihiro wandte sich jedoch davon ab und konzentrierte sich darauf, was vor ihr lag.

Die Löwen führten sie in einen kreisrunden Raum, der von denselben Säulen gesäumt wurde wie der weitläufige Saal. Allerdings besaß dieser hier eine Gewölbedecke, in deren Mittelpunkt das späte Abendlicht durch eine runde Öffnung im Gestein fiel - die einzige Lichtquelle neben acht  symmetrisch aufgestellten Lampen. Der Raum wirkte gespenstisch in dem Spiel der blauen, grünen und weißen Lichtfarben, die einen Brunnen zur Schau stellten, der das Zentrum des Gewölbes markierte. Wäre Chihiro sich ihrer Situation nicht so beklemmend bewusst gewesen, hätte sie ihn sicher als atemberaubend empfunden; es schien, als hätte man ihn aus dem Stein des höhlenartigen Gewölbes geschlagen, als wäre er glattpoliert und von erlesener Künstlerhand behauen worden. An seiner perlmuttschimmernden Innenwand rankten sich Symbole, deren Bedeutung Chihiro eher als eine Verkörperung unterschiedlichster Gefühle deutete, als dass sie die Schriftzeichen wörtlich hätte benennen können. Ebenso vertraut wie fremd war ihr der Anblick Wasseroberfläche des Brunnens: Scheinbar ganz gewöhnliches Wasser, doch schwammen auf der Oberfläche kleine, aus gefaltetem Papier gefertigte Päckchen umher. Sie waren allesamt geschlossen und hätten gewiss keinen Grund für irgendwelche Bedenken gegeben, doch schienen sie vor magischer Energie förmlich zu pulsieren. Unmittelbar um sie herum wurde das Wasser in leichte Schwingung versetzt und Chihiro erahnte, dass es sich dabei wohl kaum um Gastgeschenke handelte. So wappnete sie sich gegen das Unbehagen, das sie zu ergreifen drohte, als die Löwenwesen auf einem Altar hinter dem Brunnen platznahmen und abwartend auf Chihiro hinabschauten.

Sie musste sich räuspern, um ihre Stimme letztlich wiederzufinden: "Ich möchte mit Torai sprechen", begann sie, schloss die Hände zu Fäusten und fügte nach kurzem Zögern ein "Bitte" hinten an - sie sollte schließlich nicht vergessen, in welcher Gesellschaft sie sich befand.

"Du hast ohne Recht diese Hallen betreten", sprachen die Löwen wie aus einem Mund. "Dieser Ort ist nicht für Deinesgleichen bestimmt."

In Chihiro keimte dunkel eine Erinnerung auf, wie ein Dejavue, denn wenn sie sich recht erinnerte, hatte Yubaba damals etwas Ähnliches zu ihr gesagt. Und sie hatte ihr gedroht, sie in einen Klumpen Kohle zu verwandeln... Wenn Chihiro jetzt dieselbe Stärke aufbringen konnte wie damals, als sie sich bei der alten Hexe durchgesetzt hatte, würde vielleicht auch dieses Unterfangen letztendlich Früchte tragen. Also nahm sie sich zusammen, sprach ruhig aber mit Bestimmtheit und Nachdruck: "Wie ich das sehe, schulde ich nur dem Gastgeber gegenüber Rechenschaft. "

Spirited. Always.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt