Wie gebannt betrachtete Chihiro die Szene, welche sich ihr bot. Ihre Finger spielten nervös mit dem Saum des Pullovers, während sie Zenibas angespannte Gesichtszüge studierte und Haku, der ihr direkt gegenüberstand, in einen ebenso konzentrierten Zustand verfiel. Der Wind frischte auf, als hätte man ihn augenblicklich herbeigerufen, und blies Chihiro ihren Pferdeschwanz ins Gesicht. Zeniba streckte die Arme vor und hielt die Augen geschlossen, als sich ihr Körper scheinbar über die Schwerkraft hinwegsetzte und sie ein paar Zentimeter über dem Boden schweben ließ. Vor Staunen Chihiro hielt den Atem an, schlang sich die Arme um den Leib und war begierig darauf zu erfahren, was als nächstes geschehen würde. Sie rechnete mit einer Lichterscheinung, mit feuerwerksartigen Ausbrüchen von Magie oder einem gemurmelten Zauberspruch. Gewiss aber nicht damit, dass sich der Kehle des Drachen derartige Laute entrangen. Laute, deren Klang einem Tränen in die Augen trieb, als vernehme man den Schreckensschrei eines verwundeten Kindes. Haku wand sich regelrecht, zuckte und verkrampfte mit jedem Muskel, was Zenibas Fokus nicht im geringsten ablenkte - die Hexe rührte sich keinen Millimeter, zeigte kein Anzeichen von Angst oder Besorgnis. Haku verrenkte den langen Hals, schüttelte den Kopf, als wolle er die Fesseln mit der Kraft seines Leibes loswerden, warf sich gegen einen Baum, der einige Äste einbüßte und von dem die Rinde in großen Stücken abblätterte.
Chihiro wollte etwas unternehmen, wollte Zeniba zurufen, was sie mit Haku anstellte, aber sie hielt sich zurück. Eine Hexe wie sie wusste sicher genau, was sie da tat. Doch es schmerzte, Haku so sehen zu müssen. Immer wieder warf er den Kopf hin und her, stieß ein tiefes Grollen aus und fletschte die Zähne seines gewaltigen Gebisses, bei dessen Anblick Chihiro noch immer ganz Bange wurde.
Und mit einem Schlag war alles vorbei. Haku schüttelte sich ein letztes Mal und die Fesseln fielen entmachtet von ihm ab, als wären sie außer Kraft gesetzt. Zeniba schwebte auf den Erdboden zurück und betrachtete ihr Werk mit zufriedener Mine. "Nun wie es scheint, haben sich die Lehren des Klosters effektiv gebessert. Das war ja fast schon bemerkenswert!", sinnierte sie mit einem Blitzen in den Augen, welches auf manch einen sicher unheimlich gewirkt hätte. Chihiro erkannte es als die Begeisterung einer ehrgeizigen Magierin, was sie nur wenig beruhigte.
"Nur fast?" Chihiro betrachtete die riesigen Schellen, die scheinbar harmlos im Gras lagen. Schnell jedoch richtete sich ihr Augenmerk auf den Drachen, der mit breiter Brust und abfälligem Blick über seinem metallenen Feind aufragte. "Geht es dir gut?", fragte sie und stellte erschrocken fest, wie schrill ihre Stimme klang.
Es geht schon, ich fühle mich besser.
Chihiro glaubte ihm als sie sah, wie die dunklen Ergüsse von den Druckstellen der Fesseln langsam verblassten, ganz ähnlich einem Regenbogen, der mit schwindendem Regen am Himmel verblich. "Sind sie jetzt ungefährlich?"
Zeniba nickte und hob sie auf. "Ich werde sie verwahren. Möglich, dass ich sie einmal gebrauchen könnte." Sie konnte die Fesseln mit ihren großen Händen gerade so halten, doch man sah ihnen ihr Gewicht deutlich an. Der Klang, wenn sie gegeneinanderschlugen, verursachte bei Chihiro Unbehagen. Am liebsten wäre es ihr gewesen, Zeniba hätte sie gänzlich unschädlich gemacht, sie irgendwie entsorgt oder vernichtet, auf dass sie nie wieder jemandem Schaden zufügen würden. Denn der Anblick der Ausmaße war einfach nur schrecklich. Es hätte anders vor sich gehen können, wären die Novizen nicht gleich zum Angriff übergegangen. Womöglich hätte man eine friedliche Lösung finden können, Verständnis...
Schluss damit, Chihiro. Sie dachten, du wärst in Gefahr und wollten dich schützen. Verüble es ihnen nicht.
"Haku, ich möchte es wissen", brach sie hervor und ignorierte seine Worte. Sie atmete tief durch und suchte den Blick seiner smaragdenen Augen, die ihr seine volle Aufmerksamkeit versagten. "Du musst es mir sagen, denn sonst weiß ich nicht, wie ich mit all dem hier umgehen soll! Alles, was ich weiß - was ich selbst sehe - macht mir Angst, Haku." Sie dachte daran, was sie im Kloster mitangehört hatte, welche Worte zwischen den Novizen gefallen waren, nachdem Haku das Chaos in der Großen Halle verursacht hatte. Zenibas seltsame Reaktion, ihre doch so nichtssagende Erklärung - und dann natürlich noch all die Dinge, die Chihiro beobachtet hatte. Ganz unbewusst spielte sie an ihrem Ring, drehte ihn an ihrem Finger und strich über den runden Stein. Nun fand sie den Mut, fand die Strenge, um sich nicht wieder mit unklaren Aussagen oder Hinhaltungen abspeisen zu lassen. Denn unter ihre Sorge, ihre Angst mischte sich allmählig auch Wut. Wut darüber, dass niemand ihr den Grund für all dies nennen wollte, dass sich niemand eine Erklärung abringen ließ und ihre Fragen beantwortete.
Ich mache das nicht länger mit, dachte sie grimmig. Sag mir jetzt verdammt noch mal, was mit dir nicht stimmt!
Keine Antwort, nicht mal ein Blick.
Chihiro warf nun auch den letzten Rest Angst, all ihre Sorge über Bord und stellte sich direkt vor Haku, straffte die Schultern und schob das Kinn vor. "Los, sag es mir!"
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Spirited. Always.
FanfictionNie hätte Chihiro geglaubt, dass ihre Träume in Wahrheit Erinnerungen an eine Vergangenheit sind, in der sie sich mit alten Hexen, Verzauberungen und Gottheiten hatte herumschlagen müssen. Aber alles war real gewesen - ER war real. Obwohl Chihiro ih...