Bitter schmeckt die Sonne

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Unmittelbar vor ihnen befand sich nun die schemenhafte Wand, die allem, was jenseits davon lag, als Schutzschild diente. Chihiro beobachtete, wie die Luftgestalt der Frau, die sie vorhin gesehen hatte, ohne das geringste Zögern hindurchflog. Als sie einfach in dem Nebeldunst verschwand verspürte Chihiro ein eigenartiges Gefühl.

Es ist harmlos, wenn man eingeladen wurde. Du wirst nichts spüren. Es ist einfach nur Luft.

Als sich ihr unweigerlich die Frage stellte, was wohl mit Leuten geschah, die ungeladen den Schild zu überwinden suchten, gab Haku ihr auch darauf ehrliche Antwort: Wenn man ohne Erlaubnis den Schild durchdringt, teleportiert er denjenigen an das andere Ende. Stell es dir wie einen Raum vor, der mehrere Ein- und Ausgänge hat. Hast du keine Eintrittserlaubnis und öffnest die Tür, würdest du strikt zu einem Ausgang teleportiert werden, ohne den Raum überhaupt zu betreten.

"Okay", sagte sie und atmete tief durch. "Wollen wir dann?" Chihiro balancierte den Kleiderkarton auf ihrem Schoß und öffnete das Kästchen. Sie griff nach den Blättern, die Zeniba dort hineingetan hatte, und traute sich kaum zu fragen, wie Haku es denn in seiner Drachengestalt essen wollte. Sollte sie es einfach werfen und er würde es fangen? Wie ein Hund, dem man ein Leckerli zuwirft? Nein. Eine andere Möglichkeit wäre natürlich...

"Okay", wiederholte sie, mehr zu sich selbst, bevor sie, alle eventuell unanständigen Gedanken beiseiteschiebend, näher an Haku's Kopf heranrutschte. Sie platzierte sich direkt in seinem Nacken und klammerte sich mit den Beinen fest, als sie sich nach vorn beugte, über seinen Kopf hinweg. Zu beiden Seiten ihrer Taille fühlte sie durch ihr Oberteil hindurch die Berührung seiner rauen Hörner. Sie räusperte sich und führte ihre Hand, die das Blättchen umklammert hielt, an seiner Schläfe vorbei, direkt zu seinem feinschnittigen Maul. "Na dann, Mund auf", stammelte sie kurzatmig und wartete einen kurzen Moment, ehe sie vorsichtig ihre Hand in sein geöffnetes Maul dirigierte und den kleinen Finger ein wenig streckte, um seine Zunge zu ertasten. Gleichzeitig kratzten seine scharfen Zähne an ihrem Handballen, ohne jedoch ihre Haut zu verletzen, und Haku's überraschend weiche Zunge strich über ihre Finger. Chihiro verkrampfte sich und sog scharf die Luft ein, als sie wahrnahm, wie seine Zunge sanft und geradezu federleicht über ihre Haut schleckte, fast Kreise auf ihrer Haut beschrieb und lockend über ihren Daumen strich. Chihiro musste sich zusammenreißen, um keinen Laut von sich zu geben, konnte aber nicht verhindern, dass ihr sämtliche Röte flammendheiß in die Wangen schoss. Schnell legte sie das Blatt auf seine Zunge und riss bestürzt die Hand zurück, als Haku ein tiefes, grollendes Stöhnen von sich gab.

Beruhige dein Herz, sprach er leise mit belegter Stimme. Es schlägt ja wie wild.

Halt die Klappe, wollte sie am liebsten bissig erwidern und bremste sich gerade so, bis sie sich in Erinnerung rief, dass Haku ja ihre Gedanken hören konnte, wenn er seine göttlichen Antennen auf sie ausrichtete. Falls er es gehört hatte, ließ er es zumindest nicht durchblicken. Chihiro verfluchte sich innerlich, nahm kopfschüttelnd das zweite Blatt und legte es sich, nach einem letzten Blick darauf, selbst auf die Zunge.

Was sie nun in ihrem Mund schmeckte, ließ sie noch im selben Moment alles andere um sich herum vergessen. Nie zuvor hatte sie eine Wirkung wie diese erlebt: das Blatt löste sich augenblicklich auf und zerfloss in tausende Geschmäcker, die Chihiro mit herkömmlichen Begriffen unmöglich benennen konnte. Es war, als schmeckte sie die warmen Strahlen der Sonne in ihrem Mund, das Rot und Rosa ihrer Lieblingsblumen. Sie schmeckte das Flüstern des Windes, der zwischen Grashalmen und über Wässer wehte, schmeckte lieblich den Gesang von Rotkehlchen und Grünfinken.

"Oh mein Gott", wisperte sie ganz benommen. Es war wie ein mentaler Höhenflug, so überwältigend, dass ihr Tränen in die Augen traten und über ihre Wangen rollten. Sie fühlte sich mit einem Mal erschreckend leicht. So leicht, dass die Meerbrise sie von Haku's Rücken hätte heben und über die Wolken tragen können.

Du musst konzentriert bleiben, Chihiro. Egal, wie gut es sich anfühlt, gib nicht nach! Bleib bei mir, drängte er sich in ihren Kopf, war kaum mehr als ein blasser Schemen in einem dunklen Raum. Ein Geräusch, das aus meilenweiter Entfernung an ihr Ohr drang.

Bleib bei mir, echote es und rief ihren Verstand an. "Das ist unglaublich", brabbelte sie ganz trunken. Ein Lachen stieg in ihr auf, denn eine herrliche Wärme breitete sich in ihrem Körper aus. "Einfach unglaublich!" Chihiro konnte es fühlen; eine Sonne, deren Strahlen neckend auf ihrer Haut tanzten und sie überall kitzelten. Sie musste lauthals lachen - sie konnte gar nicht anders! - und streckte die Arme von sich, reckte sie hoch gen Himmel, um nach den Wolken zu greifen, die ihr plötzlich so nah schienen. Sie lachte und lachte, unfähig, sich zu stoppen, bis ihr die Luft wegblieb und ihr Brustkorb erbebte, in eben jenes tonlose Lachen verfiel. Sie schnappte nach Luft, nur um immer weiter zu lachen, denn das Kitzeln wollte nicht enden. Und es sollte auch niemals enden, wünschte sich Chihiro inbrünstig. Wann hatte sie schon das letzte Mal gelacht? Wann hatte sie sich je so befreit und unbefangen gefühlt, dass sie aus vollem Herzen gelacht hatte? Es fühlte sich unbeschreiblich gut an.

Chihiro, bitte, redete Haku eindringlich auf sie ein. Du musst wieder zu dir kommen! Das ist nur die Droge. Sie wirkt bei dir offenbar stärker, weil du ein Mensch bist...

Was immer er noch gesagt hatte, es ging an Chihiro völlig vorbei. Sie hörte ihn nicht mehr. Es war, als hätte man die Schnur des Dosentelefons gekappt, durch das Haku sie bislang immer erreicht hatte. Als wäre eine Tür in ihrem Kopf zugefallen und hätte ihn ausgesperrt. Denn er redete und redete, und Chihiro wollte nur genießen und sich weiter in dem unfassbaren Gefühl der Leichtigkeit verlieren, das immer mehr Besitz von ihr ergriff. Alle Sorgen fielen einfach von ihr ab, alle Hemmungen und die nagende Angst, die sich bisher immer fest an ihr Herz geklammert und all dies nicht zugelassen hatte. Nun aber konnte sie es abschütteln, konnte die freudige Erregung, diese beseelende Leichtigkeit zulassen. Und mehr noch, denn es nahm einfach Besitz von ihr, ohne dass sie irgendetwas dafür tun musste. Immer noch tanzten Sonnenstrahlen auf ihrem Körper und der Wind spielte mit ihrem Pferdeschwanz, bis Chihiro den Gummi löste und ihr Haar in einer verspielten Geste schüttelte. Sie genoss, wie der Wind durch die langen Strähnen wuschelte und sie durcheinanderwirbelte. "Der Wind spielt mit mir!", rief sie freudig lachend und streckte die Hände aus, als könnte sie ihn anfassen, die Geste erwidern. Ihr Herz machte einen Satz, als sie um sich herum nur noch den Wind spürte. Sie lachte und lachte, als der Wind ihr das Haar abwechselnd ins Gesicht wehte und es dann plötzlich wieder herausstrich, als könnte er sich nicht entscheiden.

Haku, dachte sie ganz verloren und verträumt. Der Wind ist jetzt unser beider Gefährte!

Sie streckte die Hand nach Haku aus, um ihn mitzureißen in dieses Erlebnis, aber sie fasste nur ins Leere. Stirnrunzelnd schaute sie sich um, wurde aber geblendet von der Sonne, die überall zu sein schien, egal in welche Richtung Chihiro schaute. Hier und da blitzte es in verschiedenen Farben, doch wenn sie genauer hinsehen wollte, verschwand alles in einem Strudel aus Sonne und Wärme und ließ ihr Herz unkontrolliert auf und ab hüpfen.

Plötzlich wurde der Wind schrecklich beißend. Er bohrte sich mit einem Mal so heftig in Chihiro's Rücken, dass ihr die Luft ausblieb und ihr Lachen sowie ihre Ausgelassenheit  augenblicklich vergingen. Und mit einem Mal legte sich der Strudel vor ihren Augen, gab den Blick frei auf den wolkenverhangenen Abendhimmel. Irgendetwas bewegte sich dort oben. Etwas Weißes. Nein. Etwas Schwarzes.

Bevor Chihiro es genauer erkennen konnte, fühlte sie, wie ihr Magen sich hob. Schiere Panik brach mit der Wucht eines Wirbelsturms über sie herein und ihre Arme und Beine ruderten hilflos in der Luft, während ihr Schrei, den sie bis dahin nicht registriert hatte, ihre Kehle schmerzen ließ.

Sie fiel. Und ihr Fall wollte nicht enden.

Spirited. Always.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt