Stille

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Der enorme Schreck drückte ihr die Luft aus den Lungen. Ihr Magen wurde von einem unangenehmen Kribbeln beherrscht, als würde dessen Inhalt in einer Endlosschleife Purzelbäume schlagen. Mit vom beißenden Wind tränenden Augen rief ihr Geist nach Haku, während ihre Beine hilflos in der Luft strampelten und sie die Hände ausstreckte, als wäre es ein Ding der Möglichkeit, dass sie irgendwo Halt finden könnte, nach irgendetwas greifen könnte, das ihren Sturz aufhalten würde. Aus rationaler Sicht betrachtet: eine ziemlich lachhafte Hoffnung.

Aber rational war in dem Augenblick für Chihiro einfach nicht drin. Die Angst,die sich schlagartig in ihrem Körper breitgemacht hatte, war viel zu vertraut. Schon einmal war Chihiro gefallen, und obwohl es damals ein Traum gewesen war, war die Furcht es keineswegs. Sie war realer denn je, lebhaft und definitiv vorhanden.

Wie aus der Ferne hörte sie sich noch immer schreien, wobei kreischen eher der richte Ausdruck dafür gewesen wäre. Panik ergriff derartig von ihr Besitz, dass sie kaum einen Gedanken fassen, geschweige denn sich etwas Hilfreiches einfallen lassen konnte. Chihiro war nicht einmal dazu imstande zu verfolgen, was in den nächsten Sekunden geschah: der tränenhafte Schleier vor ihren Augen gab ihr den Blick auf Haku nicht frei, der im Sinkflug hinter ihr herjagte. Er flog ungeheuer schnell, preschte zu ihr und streckte seine Klauen, um sie heil aus der Luft zu fischen. Chihiro blieb die Luft weg, als ihr Fall daraufhin abrupt endete und sie Haku's Klauen überall an ihrem Körper spüren konnte; er schob sie unter ihre Oberschenkel, legte sie an ihren Rücken und stützte sogar ihren Kopf, als würde er behutsam ein kleines Kind vor sich her tragen. Es fühlte sich an, als würde sie überall gegen ihn gedrückt, als Haku einen Bogen schlug und wieder an Höhe gewann. Nur vage erkannte Chihiro, dass sie den Schutzwall passiert hatten, denn sie entfernten sich immer weiter von der nebelhaften Wand, die das Meer zu teilen schien.

Chihiro wischte sich über die nassen Wangen, als Haku sich in einem wesentlich langsameren Tempo fortbewegte. Ein Teil von ihr wollte einfach nur heulen, den gewaltigen Kloß ausspucken, der ihr die Luft abschnürte, und bis die Angst mit ihren Tränen aus ihren Adern getilgt wurde. Aber dazu war sie nicht in der Lage. Sie stand wohl zu sehr unter Schock.

Für Chihiro umso verwirrender war der andere Teil in ihr, denn dieser wollte einfach nur das Denken einstellen und hochgradig darüber lachen, dass sie nicht auf dem Wasser aufgeschlagen war, sondern völlig unversehrt in den Wolken schwebte. Ein gefährlicher Teil, dem Chihiro mit aller Kraft zu widerstehen versuchte, indem sie die Lacher mühsam hinunterschluckte. Ihre Hände fühlten sich taub an, wie auch ihre Beine, aber Haku's Klauen hielten sie sicher, drückten nicht zu, sondern umgaben sie wie ein schützendes Netz. Wie eine Hängematte.

Wie in Trance rieb sie sich die Hände, um das Zittern zu stoppen, das dort eingesetzt hatte. Sie begann zu wimmern, am ganzen Körper. Ihre Stirn begann mit einem Mal schmerzlich zu pochen. Unfähig laut zu sprechen rief sie in Gedanken nach Haku. Sie musste seine Stimme hören. Seine beruhigenden Worte. Nur das würde ihr jetzt helfen.

Stille.

Haku, mir geht's nicht gut, formulierte sie nun deutlicher. Vor ihren Augen begann sich alles zu drehen. Sie brauchte unbedingt festen Boden unter den Füßen. Können wir bitte irgendwo landen? Jetzt?

Haku gab keine Antwort, aber sie nahm deutlich wahr, wie jeder seiner Muskeln sich verspannte. Sich konnte die Energie spüren, die von ihm ausging - unruhig und so verworren wie ein gesponnener Kokon. Nichts Sanftes, Beruhigendes lastete daran, auch wenn sein Griff so zärtlich wie bestimmt war. Es verstrichen Sekunden, die sich für Chihiro wie Minuten anfühlten. Quälende Sekunden, in denen ihr abwechselnd heiß und kalt und das Zittern ihrer Hände immer heftiger wurde. Und Haku sprach nicht ein Wort zu ihr. Wenn er nicht bald landete, würde sich übergeben.

Spirited. Always.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt