Ein altes Hexenrezept

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Chihiro vermochte nicht zu sagen, wie sie die erste Stunde nach dem Aufwachen überstanden hatte. Quälende dreiundsechzig Minuten, gefüllt mit peinlichem Schweigen, welches sie nicht zu durchbrechen gewagt hatte. Haku hatte klar zum Ausdruck gebracht, dass er ihr die versprochenen Antworten erst in Zenibas Anwesenheit mitteilen würde - warum auch immer er darauf bestand. Und so wusste sie nicht, was sie sagen sollte. Himmel, sie hatte ja nicht einmal gewusst, wie sie ihm nach ihrer nächtlichen Tätschelei gegenübertreten sollte! Und so hatte sie ruhig unter der Decke gelegen, hatte die Augen geschlossen gehalten und die Ohren gespitzt um herauszufinden, ob er bereits wach war. Es hatte sie ein wenig beruhigt seine Bewegungen zu hören, so leise sie auch gewesen sein mochten. Erst dann fasste sie sich, hob die Decke wenige Zentimeter an und linste durch den schmalen Spalt, nur um festzustellen, dass er ihr den Rücken zugewandt hatte und der Feuerstelle zu neuem Leben verhalf, indem er einige Holzscheite mit den Zähnen packte und nachlegte.

Die Minuten vergingen, ohne dass sie sich großartig bewegte. Ihr fehlte die Erklärung, die ihr Handeln von letzter Nacht rechtfertigte. Was hatte sie sich auch dabei gedacht? Was hatte sie geglaubt, dadurch herausfinden zu können? Sie verstand viel zu wenig von der Magie, von dem Zauber dieser Welt, um irgendwelche hilfreichen Schlüsse ziehen zu können. Und nun ruhte ihre ganze Hoffnung auf einer Frau, die vor langer Zeit ihre Freundin gewesen sein sollte, und die sich noch nicht blicken ließ. Eine Frau, die ihr nach wie vor fremd war...

Ein dumpfer Knall riss sie aus ihren Grübeleien. Haku hatte das Haus verlassen. Chihiro schlug eilig die Decke zurück und schlüpfte in ihre Schuhe, band sich das Haar zu einem Pferdeschwanz zurück und rannte zur Tür. Wo sie, die Hand schon nach dem Griff ausgestreckt, erstarrte. Sollte sie ihm wirklich nachlaufen? Er war sicher nicht grundlos gegangen. Wollte er ihr wegen dieser Sache aus dem Weg gehen? Oder sich vielleicht nur die Beine vertreten, denn schließlich hatte er mit seiner Größe recht wenig Bewegungsfreiheit in den vier Wänden genossen. Oder er scheute tatsächlich ihre Begegnung. Wollte sie nicht sehen, bis Zeniba auftauchte.

Mit zusammengepressten Lippen überlegte sie hin und her, streckte die Hand nach der Tür aus, zog sie wieder zurück. So lange, bis sie resigniert seufzte und sich dagegen lehnte.

Idiotin, dachte sie. Als ob es nichts Wichtigeres gäbe! 

Und gerade als sie hinausgehen wollte, öffnete sich die Tür. Chihiro reagierte nicht schnell genug und spürte den Griff in ihrem Rücken, hörte ein amüsiertes Lachen und dann eine krächzende, erheiterte Stimme: "Willst du da noch lange stehen oder lässt du mich bitte endlich in mein Haus?"

Chihiro hatte nicht länger die Gelegenheit beiseite zu treten. Wie ferngesteuert wurde sie über die Dielen geschoben, die Füße fest zusammengestellt und mit durchgedrückten Knien. Sie klammerte sich an den Esstisch, als sie... nun ja... freigelassen wurde, und stierte zur Tür hinüber. Im Rahmen stand eine alte Frau in einem blauen Kleid und mit aufgestecktem ergrautem Haar, das früher wohl einmal blond gewesen war. Chihiro kam nicht umhin festzustellen, wie riesig alles an ihr wirkte! Für einen Menschen schien sie zu überdimensional mit dem großen Kopf, den gigantischen Augen, der zu langen Nase und den Nasennebenhöhlen, in die Chihiro problemlos ihre Faust hätte schieben können. Auch ihre Hände... ein Finger schon war breit wie Chihiros Hals.

"Guten Morgen, Liebes! Nur keine Angst."

"Sie sind Zeniba?!" Chihiro kam nicht umhin, dass ihre Frage mehr wie ein Vorwurf klang. Rasch schlug sie sich die Hand vor den Mund und murmelte ein "Verzeihung", während ihre Wanden sich vor Verlegenheit puterrot färbten.

Zeniba wischte die Entschuldigung mit einer Geste ihrer großen Hand - die voller prunkvoller, juwelenbesetzter Ringe war - beiseite. "Genau die. Sag, möchtest du auch einen Tee?" Sie trat in ihren Küchenbereich und setzte einen Kessel auf.

"Zeniba, ich"

"Alles zu seiner Zeit", unterbrach die Alte sie. "Bevor wir uns über alles unterhalten, möchte ich zunächst gern, dass du mich mehr nicht wie ein seltsames Etwas anschaust. Ich kann dein Erschrecken ja bis hierher spüren!"

Chihiro schloss eiligst den Mund, der ihr bis eben vor Erstaunen sperrangelweit offenstand.

"Pass auf, ich mache dir einen Vorschlag." Zeniba zwinkerte und begann, alle möglichen Döschen in ihrem Regal zu durchkämmen. Überall nahm sie etwas heraus und warf es nach und nach in den dampfenden Wasserkessel. "Was ich hier zusammenbraue, wird deinem Erinnerungsvermögen ein wenig auf die Sprünge helfen."

Es dauerte keine drei Minuten, bis sich Zeniba und Chihiro mit einer dampfenden Tasse des Hexengebräus gegenübersaßen. Wieder Zwinkerte Zeniba und lächelte freundlich: "Nur zu."

Chihiro betrachtete prüfend die heiße Flüssigkeit, die in zarten Grüntönen schimmerte und deren Geruch an Honig und Veilchen erinnerte. Als Zeniba einen Schluck trank, gab Chihiro nach und setzte ebenfalls die Tasse an ihre Lippen. Es schmeckte ganz hervorragend, war geradezu köstlich und wohltuend. Und gerade als Chihiro Zeniba genau das mitteilen wollte, genügte ein einziger Blick auf die Hexe... 

Mit all der Kraft, die die enorme Erleichterung und die Freude ihr verliehen, schloss Chihiro Zeniba in die Arme. Sie wäre zu gern bei der gutherzigen Hexenschwester geblieben. Der Abschied fiel nicht leicht. "Vielen Dank für alles!" Sie ließ los und wandte sich dem Drachen zu, der schon auf sie wartete.

"Zeniba", flüsterte Chihiro freudig und mit Tränen in den Augen.


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