Schritt eins eines zugegeben unausgereiften Plans

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Torai hatte nicht gescherzt als er meinte, sie müsse gehen, und Chihiro war es ebenso klar, allerdings erwähnte er mit keinem Wort wie sie sein Domizil verlassen, geschweige denn den Weg zum Kloster finden sollte. Im Grunde hatte er sie einfach vor die Tür gesetzt, sodass sie sich binnen eines Wimpernschlags in dem weitläufigen Tanzsaal wiederfand. Die Musik erfüllte den Raum mit einer herzlichen Heiterkeit, die Chihiro's kühler Stimmung wie heißer Dampf entgegenschlug. Die Gesellschaft hatte sich zerstreut, Götter standen in heiteren Gruppen beieinander. Chihiro hatte kaum Augen für die Verbliebenen oder ein Ohr für die Euphorie versprechenden Klänge, denn in ihrem Kopf spukten die schlimmsten Gedanken und sie alle kreisten um Haku: Haben sie ihn wirklich eingefangen? Haben sie wieder diese grauenhaften Fesseln eingesetzt? Ist er verletzt, hat er Schmerzen? Ist er ihnen vielleicht entkommen?

Chihiro bemerkte erst zu spät, dass sie mitten im Saal gedankenverloren stehen geblieben war, als auch schon eine gehörnte Gestalt in sie hineinrannte und ihr einen grimmigen Blick zuwarf.
Haku, echote es in ihrem Inneren und überlief sie kalt. Es war, als würden sich die magischen Ketten der Novizen um ihre eigene Brust schlingen, den Hals hinauf, und sich immer enger zusammenziehen. Das Schlucken fiel ihr plötzlich schwer.
Ein Geräusch durchbrach die Stille, als würde die Seifenblase platzen, in der Chhiro sich befand. Etwas wuselte an ihren Knöcheln und als sie herabblickte, entdeckte sie einen buschigen, giftgrünen Schwanz, der unter dem Saum ihres Kleides hervorlugte.
"Wuah!", stieß sie im Schreck aus und sprang hastig einen Schritt zurück. Ein geisterhafter Iltis - wie die, die Chihiro bereits beim Betreten des Saals aufgefallen waren - kam zum Vorschein und blinzelte sie aus unerschrockenen, leuchtend kobaltblauen Augen an. Scheinbar war er sich keiner Schuld bewusst. Er senkte den Kopf und leckte etwas vom Boden auf, das rosafarben schimmerte. Es dauerte einen Augenblick, bis Chihiro erkannte, dass es sich dabei um den Trank handelte, den Zeniba für sie gebraut hatte - das Gegenmittel, das sie von der Wirkung der Blätter befreien sollte. Die Phiole musste beim Sprung aus ihrem Brustteil geflogen und beim Aufprall zerbrochen sein.
Super, das wird ja immer besser!, sagte sie sich und machte sich daran, an dem Wesen vorbeizumarschieren. Der Iltis aber huschte vorwärts und überholte sie, setzte sich vor ihre Füße und schaute erwartend zu ihr auf. Wären die Umstände weniger dringend, wäre sie vielleicht versucht gewesen, ihn anzulocken und zu streicheln (Gott oder nicht, der Iltis sah einfach umglaublich kuschelig aus).
Ich lerne wohl nie was dazu, rügte sie sich rasch und seufzte. Es sind Götter, verdammt noch mal! Durchtrieben bis aufs Blut. Sie würden sich auch in Hundewelpen verwandeln, damit du auf sie hereinfällst!

"Leg dich jetzt lieber nicht mit mir an", zischte sie grimmig und traktierte den Iltis mit Blicken, die die Hölle hätten gefrieren lassen. Ohne Weiteres stolzierte sie voran und ließ sich von ihrer Intuition führen, während sie durch den Gang eilte, den sie vorhin entlanggegangen war. Sie fand das Foyer wieder und schleuderte sich die Sandalen von den Füßen, ehe sie in ihre Turnschuhe schlüpfte. Das Kleid würde sie anbehalten müssen, da ihre übrige Kleidung mit Magensaft und halb verdauten Essensresten besudelt war.

Sie drehte ihr Haar zu einem Knoten und fixierte ihn mit den Perlenspangen, während sie fieberhaft überlegte, wie sie am besten vorgehen sollte um einen Ausgang zu finden - Schritt eins eines zugegeben unausgereiften Plans.

Eins nach dem anderen, beruhigte sie sich und machte sich daran, dem langen Korridor in die andere Richtung zu folgen. Bald aber verlor sich dieser, mündete in einen Raum von dem wiederum vier Flure ausgingen, von denen kein einziger den Weg zum ersehnten Ausgang versprach.

"Na toll", murmelte sie zu sich selbst. "Nicht mal das kriegst du hin, du Närrin".

Ein Geräusch, wie ein Gurren, lenkte sie ab. Wieder hockte der kleine, rotorangefellige Iltis mit der grünen Rute zu ihren Füßen. Er schaute nicht zu ihr auf, sondern trottete sorglos in einen der Flure. Chihiro blickte ihm verwirrt nach. Sollte sie ihm nachgehen? Aber wieso sollte er sie zum Ausgang führen? Vielleicht kam er nur zufällig hier entlang...

Spirited. Always.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt