Neue Pfade

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Haku und Chihiro hatten sich einander gegenüber an Zeniba's Tisch gesetzt und sahen der Hexe dabei zu, wie sie mit argwöhnischem Gesichtsausdruck in den Taschen ihres Kleides fischte. Sie murmelte etwas vor sich her, was Chihiro nicht verstand, und förderte daraufhin einen recht edel wirkenden Umschlag und ein kleines, schwarzes Kästchen zutage, welches sie auf den Tisch vor sich abstellte. "Hierfür musste ich einige Gefälligkeiten einfordern, also passt jetzt gefälligst gut auf", mahnte Zeniba und blickte die beiden über den Rand ihrer Brille, die mit ihrem schmalen Gestell zu zart und winzig in ihrem riesigen Gesicht wirkte, an. "Dies ist eine Einladung zur Abendgesellschaft des Gottes Torai."

"Das kann nicht dein Ernst sein", rief Haku entgeistert. Chihiro warf nur einen Blick auf seine Hand, die eben so ruhig auf dem Tisch gelegen hatte und welche nun zur Faust geworden war, auf der die Fingerknöchel einer nach dem anderen weiß hervortraten. Auch seine Stimme hob sich. Haku schlug einen Ton an, der keine Zweifel an seiner strikten Abneigung ließ: "Torai ist kein Gott. Er hat sich längst von allem, was Göttlich ist, entfernt. Torai hat kein Interesse mehr an seinen Pflichten, am Erhalt des Gleichgewichts! Er ist nur allzu bekannt für seinen ausschweifenden Lebensstil. Er lebt nur noch für die Vergnügen der unmoralischsten Art und -"

Zeniba gebot Haku mit erhobener Hand Einhalt und hielt ihm entgegen: "Und er ist sehr alt, Haku. Deine Lebzeiten sind für ihn nur ein Wimpernschlag, kaum einer Beachtung wert! Wenn du erst so lange lebst, wie er, kannst du diese Ansicht gern vertreten, aber bis dahin solltest du deine Meinung für dich behalten und nicht so vorschnell urteilen."

"Torai genießt diesen Ruf bereits seit Jahrhunderten und er schert sich nicht im Geringsten darum, was einen wahrhaftigen Gott ausmacht. Er lebt in einer von ihm selbst geschaffenen Seifenblase, weiß kaum wie es heutzutage in der Wirklichkeit zugeht", beharrte Haku gereizt.

"Wie dem auch sei", fuhr Zeniba ungeduldig fort, "Wenn du dir eine Lösung für dein Problem erhoffst, solltest du über deinen Schatten springen! Er mag verrufen sein, aber er ist alt und nicht gerade dumm, Haku - ich halte ihn sogar für weise, auch wenn ich seine Angewohnheiten nicht gutheiße. Sein Wissen reicht so viel weiter als das meine. Ich rate dir also, diese Chance nicht in den Sand zu setzen! Torai ist nicht nur deine beste Option - er ist im Moment deine einzige."

"Wir sollten jeder Möglichkeit nachgehen. Vielleicht kann er uns wirklich weiterhelfen", meldete sich Chihiro zu Wort. 

Zeniba lächelte dankbar, schaute sie anerkennend an und fuhr fort: "Ihr werdet euch in eine seiner Abendgesellschaften einschleusen. Sie werden stets in seinem Club abgehalten und ohne diese Einladung hier", sie wies auf den Umschlag und das Kästchen, "würdet ihr auch nicht hereinkommen."

"Und wieso sprichst du von einschleusen?", fragte Chihiro nachdenklich.

"Torai umgibt sich seit Jahrhunderten mit engen Freunden und Gleichgesinnten, daher kommt es nicht oft - oder bessergesagt niemals - vor, dass sich in seinem Club neue Gesichter sehen lassen. Haku würde auffallen wie ein bunter Hund, und du.... ein Mensch..." Sie ließ den Satz offen, zuckte nur die Achseln und wandte sich dem Umschlag zu, während Chihiro sich zurücklehnte und ganz still wurde. "Die Einladung", erklärte Zeniba nun und öffnete den Umschlag, "ist eigentlich für eine andere Göttin und ihren Begleiter bestimmt, aber ich habe sie überreden können, sie mir zu überlassen."

Chihiro konnte sich nicht vorstellen, was Überredung für Zeniba bedeutete, sie grübelte aber nicht weiter darüber nach und sah zu, wie die Hexe eine malerische Karte - elegant geschmackvoll, azurfarben koloriert, mit rot-orangenen, geschnörkelten Ornamenten und einer Art Film aus Goldstaub versehen - entfaltete.

"Um in den Club zu gelangen, müsst ihr die hier auf eure Zunge legen, wenn es so weit ist." Zeniba legte etwas auf den Tisch, das aussah wie zwei grüne Blätter, die mit Goldadern durchzogen waren und im Licht der untergehenden Sonne, die in ihr Haus hineinschien, regenbogenartig glänzten. Sie besaßen etwa die Größe von Chihiro's kleinem Finger, waren länglich und schmal und schienen wie dafür gemacht, um sie sich im Munde zergehen zu lassen. "Es ist ein Ritual, das Torai in seinen Kreisen pflegt, und er würde es merken, wenn ihr es nicht tut."

Götterdrogen, dachte Chihiro skeptisch und kam nicht umhin, in Gedanken laut aufzulachen. Ihr war die Vorstellung absurd, dass selbst Götter nicht die Finger von einer solch menschlichen Verfehlung ließen. In gleichem Atemzug aber wurde ihr auch klar, dass es sich wohl kaum um irgendwelche menschlichen Drogen handelte und sie es nicht damit vergleichen sollte. Nicht's  in dieser Welt war für Menschen gedacht.

"Wie ist die Wirkung?", erkundigte Chihiro sich vorsichtig und beäugte die Blätter mit Misstrauen.

Zeniba's Augenbrauen zuckten amüsiert. "Ihr werdet ausgelassen sein, heiter. Die Blätter simulieren wohl einen Glückszustand und setzen die Hemmschwelle herab. Und sie hindern euch daran, die Unwahrheit zu sagen."

"Wir werden also wie benebelt sein, fröhlich und ehrlich", fasste Chihiro trocken zusammen und warf Haku einen Blick zu. Ihn schien diese Angelegenheit nur noch weiter aufzubringen. Seine Augen ruhten mit scharfer Strenge auf Zeniba, als wollte er wieder sagen: Das kann nicht dein Ernst sein!

"Ich habe allerdings zur Sicherheit eine Vorkehrung getroffen", warf die Hexe beschwichtigend ein, "Ein Elixier, das die Wirkung aufheben wird." Und damit öffnete sie das schwarze Kästchen, dem bislang keine Achtung geschenkt wurde. Auf einem samtenen Kissen ruhten zwei kleine Phiolen, gefüllt mit einer rosafarbenen Flüssigkeit, die Chihiro ziemlich suspekt aussah. Fast wie eingefärbtes Parfumwasser. "Trinkt es erst, wenn ihr den Club verlasst. Vorher wäre es zu riskant, schließlich wollt ihr euch nicht Torai's Unmut zuziehen."

Immerhin etwas, dachte Chihiro und seufzte. "Klingt nach 'nem Plan. Also, wann kann's losgehen?"

Spirited. Always.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt