Der Kreis schließt sich

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"Wie du ja weißt, ist dies eine Zwischendimension, in der Götter sich in ihrer physischen Gestalt frei umherbewegen können. In deiner Welt existieren sie auf einer anderen Ebene. Eine Ebene, die sie von den Menschen abgrenzt", erklärte Kamaji ruhig. "Jeder Gott lebt für seine Pflichten und zehrt von der Entlohnung, die ihm in vielerlei Form zuteil wird. Sie erhält seine Macht aufrecht und bekräftigt ihn im Laufe hunderter Jahre. Das ist der Grundstein seines Daseins", fuhr er fort.

"Ja", bestätigte Chihiro. "So viel hat man mir auch schon erzählt, aber ich verstehe nicht, was -"

"Weißt du Besserwisser denn auch, woher die Götter kommen?", fiel Kamaji ihr ins Wort.

Sie fühlte sich leicht aus der Bahn geworfen, zumal Kamaji es derart betonte, als wollte er ihr etwas ganz Offensichtliches bewusst machen. Der Dämpfer, den er ihrem innerlichen Brennen damit aufsetzte, schürte eine neue Flamme. Sie hatte so oft geklagt, im Grunde nichts zu wissen. "Nein", gestand sie schließlich.

Kamaji hüstelte, wohl von dem doch sehr beißendem Aroma der Kräuter, die er in den Mörser gab. "Nein, das weißt du nicht. Aber wie es irgendwann einmal die erste Frau und den ersten Mann der Menschheit gegeben hat, so gab es auch die ersten Gottheiten. Sie taten sich aus dem kosmischen Chaos hervor und entschwanden in andere Dimensionen. So fanden sich die ersten Götter zusammen, trennten in geballter Macht Himmel und Erde voneinander und erschufen so bewohnbares Land: die Erste Insel. Nicht nur, dass sich das erste Götterpaar dort niederließ, nein! So wurde auch die Verbindung der Dimensionen geschaffen - jene Verbindung, welche zwischen deiner Welt und dieser Welt herrscht und noch abertausend anderen", sinnierte Kamaji und holte während seiner Erzählung zu weiten Gesten mit den Armen aus. Er blickte zu Chihiro, die ihn jedoch nur mit großen Augen anstarrte und darauf wartete, den Rest der Geschichte zu hören. Ihr Verstand saugte jedes Wort begierig auf.

 "Na, jedenfalls fand sich dieses Götterpaar auf dem Ersten Land zu einer rituell gebundenen Einheit zusammen", sprach Kamaji weiter und stoppte in seiner Arbeit, wie um der Bedeutsamkeit Ausdruck zu verleihen. "Aus diesem Bund heraus entstanden acht Inseln und - was gemeinhin weniger bekannt ist - acht weitere Gottheiten."

"Deshalb ist acht also eine Glückszahl", murmelte Chihiro mehr zu sich selbst. "Dann ist mit jeder Insel ein Gott geboren worden?"

"Hmm, wenn du das so ausdrücken willst", grummelte er und warf weitere Kräuter in den Mörser, ohne sie jedoch zu mahlen. "Es geht um den steten Ausgleich zwischen den auf Ewig verbundenen Dimensionen, das muss dir klar sein! Ein Gott kann nicht existieren, ohne dass ein Gegenstück präsent ist. Erde, Wasser, Wind, Feuer - Leben. All das entstand aus urgöttlicher Macht. Damit es Leben geben kann, muss es Sterblichkeit geben. Götter schützen ihr Land nach ihren Kräften - mit allen Fähigkeiten, die ihr Wesen mit sich bringt. Es ist Balance , Leben und Tod in einem fundamentalen Kreislauf. Und das gilt für Menschen wie auch für Götter, Chihiro."

Chihiro wusste die Aussage nicht recht zu deuten. Ihrem Verständnis nach waren Götter nicht an das Leben und den Tod gebunden, wie Menschen es sind. Sie waren unsterblich und nicht von menschlichen Bedürfnissen ergriffen, wie Haku ihr zu erklären versucht hatte. Er sagte, er brauche nicht zu essen oder auszuruhen, obwohl Chihiro vom Gegenteil Zeuge geworden war, nach ihrer Flucht zu Zenibas Haus. Wenn sie recht darüber nachdachte, war Haku auch früher schon verwundet worden. Er hatte geblutet und sich bei Kamaji verstecken und erholen müssen, als Yubaba ihn töten lassen wollte, nachdem er Zeniba bestohlen hatte und dabei nur fast gestorben wäre. Chihiro hatte Todesangst um ihn gehabt. Sprach das etwa für Unsterblichkeit? Wohl kaum.

"Es ergibt einfach keinen Sinn...", brabbelte sie ratlos vor sich hin, fuhr sich aus Verwirrung durchs Haar und schaute zu Kamaji auf, der sie erwartungsvoll durch seine Brillengläser taxierte. "Haku ist nicht so unsterblich, wie er mir gegenüber behauptet hat, das sehe ich jetzt auch. Aber er hat mir erzählt, wie ein Gott im Grunde lebt - dass er nicht essen, nicht schlafen braucht, solange er Macht aus der Erfüllung seiner Pflicht zieht."

Spirited. Always.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt