In Ketten

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Die absolute innere Klarheit während eines Kampfes - man wusste um den Weg und das Ziel: Gegen wen man sich stellte und wofür man kämpfte - war Saya weiß Gott nicht fremd, aber wann immer sie Gelegenheit bekam, Teban während eines Gefechts zu beobachten, gefror ihr das Blut in den Adern. Er zeichnete sich nicht durch einen sonderlich warmherzigen Charakter aus und legte auch nicht viel Wert auf Höflichkeiten, aber er war ein kluger Kopf, ein ausgezeichneter Stratege, durch und durch ein Krieger. Das hatte er in all den Jahren, die er im Kloster verlebt hatte, etliche Male unter Beweis gestellt. Neben seiner natürlichen Begabung hatten die vielen Einsätze auch dazu geführt, dass sich seine Fähigkeiten immens steigerten - parallel dazu auch sein Ego, musste Saya hinzufügen. Dass er der Leistungsstärkste ihrer Truppe war, konnte sie allerdings nicht abstreiten. So oft schon hatte sie mit angesehen, wie leidenschaftlich er seinen Pflichten nachging und manchmal - so wie jetzt - hatte sie den Eindruck, dass ihm das ganze zu viel Spaß machte.

Aber das mochte vielleicht auch daran liegen, dass Saya in dieser Situation nicht sofort Partei für ihre Leute ergreifen wollte.

Yama, Yin und Saya waren Teban und Shouta gefolgt. Als sie das Meer erreichten sprachen sie einen Zauber, der ihnen die Fähigkeit verlieh, auf dem Meer zu laufen. Unter ihren Schuhen verwandelte sich das Wasser in eine Art festes Gelee, auf dem sie nur deshalb das Gleichgewicht wahren konnten, weil es Teil ihres zeitintensiven Trainings war.

Das Meer verhielt sich glücklicherweise ruhig, sodass sie die kleinen hügeligen Wellen leicht überspringen konnten. Demnach war es nur eine Frage von Minuten, bis sie ihre Mitstreiter einholten, allerdings zu einem Zeitpunkt, der nicht passender hätte sein können für eine Gruppe ausgewählter Novizen, die gemeinsam Jagd auf einen Drachen machten: Das Getümmel vor der flimmernden Schutzbarriere, die das Meer zu teilen schien, war in vollem Gange, als Saya und die anderen dazustießen. Shouta befand sich auf dem Wasser, hielt mit den Armen die Enden vier langer Eisenketten umklammert und stemmte sich gegen die Kraft, die an den anderen Enden zog. Trotz seines enorm athletischen Körperbaus gelang es ihm kaum, die Ketten allesamt zu halten, sodass Yin und Yama ihm gleich zu Hilfe eilten, als sie eintrafen. Saya hingegen näherte sich dem Szenario mit mehr Vorsicht. Sie versuchte, die Situation einzuschätzen und dachte dabei unentwegt an den flehentlichen Ausdruck auf Chihiro's Gesicht,  als sie ihr geholfen hatte, ihren Freund sicher zum Haus der Hexe Zeniba zu bringen - wie Saya im Nachhinein erfahren hatte. Saya hatte noch nie einen solch innigen Gesichtsausdruck gesehen, aus dem so viel Vertrauen und Zuneigung sprach, gleichzeitig jedoch gepaart mit Furcht und Unsicherheit.

Was Saya aber nun beobachtete, entließ Chihiro's Gesicht in einen hinteren, entlegeneren Teil ihres Verstandes. Denn sie sah einen Drachen, um dessen geschundenen Körper sich die mit einem Schlingzauber versehenen Ketten rankten, sich mehrfach um ihn wanden und festzogen wie eine Würgeschlange, um seine Bewegungsfreiheit einzuschränken und ihn an einer Flucht zu hindern. Mit Yama's und Yin's Hilfe gelang es Shouta sogar den Drachen nahezu bewegungsunfähig zu machen: Er hielt sich noch mithilfe seiner ureigenen Magie in der Luft, während seine Beine aber durch die Ketten eng an seinen Rumpf gepresst wurden und damit ihren Nutzen als Waffen einbüßten. Auch das Maul, an dessen haifischartige Zähne Saya sich noch lebhaft erinnerte, war von einer Kette umschlungen. Teban war es, der damit auch die Bewegung von Hals und Kopf der Kreatur einigermaßen unter Kontrolle hielt.

"Saya!", brüllte Yama in grimmiger Aufforderung und sah sich kurz zu ihr um. Saya wusste, dass ihre Hilfe gebraucht wurde, um den Drachen wirklich dingfest zu machen, denn sein Schweif war das einzige Glied, das noch freibeweglich war und mit ein paar Schlägen die Mühen der Novizen zunichte machen konnte.

"Worauf wartest du?!", rief nun auch Shouta, der Saya einige Meter hinter sich entdeckt hatte. "Eine schriftliche Einladung, vielleicht?"

Saya blendete ihn aus - was ihr nicht leichtfiel, da sie mit Shouta eine enge Freundschaft verband - und sah zu Teban hinauf, der mittels eines Luftgleitzaubers am Himmel schwebte. Seine gesamte Konzentration war auf den Drachen gerichtet, der ohne Unterlass versuchte, Teban und dessen Ketten abzuschütteln. Aber der Novize war stark. Sehr mächtig sogar, wenn es um Zauberei ging. Saya erschauderte, als sie den Genuss förmlich in seinen Augen lesen konnte. Ein gefährliches Glitzern in der Iris, welches Saya selbst aus dieser Entfernung wahrnahm.

"Saya, nun mach schon!" Shouta kämpfte mit den beiden Ketten, die er festhielt, und murmelte einen Zauber, der seine Beine fest im Wasser verankerte, sodass er nicht einfach fortgerissen werden konnte. Yama und Yin taten es ihm nach und klammerten sich mit grimmigen Mienen an die langen Fesseln. Saya sah nur, wie der Drache mit seinem Schweif ausholte und nach Shouta schlug, der geschickt auswich und die Ketten straffte, was dem Drachen ein lautes Knurren durch das geschlossene Maul entlockte. "Saya!"

Mit hart aufeinander gepressten Lippen setzte sie sich in Bewegung, hatte nur noch Augen für ihre Freunde, mit denen sie seit Jahren Dach und Herd teilte, und nahm Shouta seine Last ab. Sie wisperte den Zauberspruch und spürte, wie das Wasser sie von den Füßen bis zu den Knien fest umschloss, gerade als ein Ruck durch die Kette ging, der sie glatt von den Beinen gefegt hätte. Ihre Arme schmerzten, als würden sie auseinandergerissen, und sie wickelte die Ketten zusätzlich um ihr Handgelenk. Shouta griff sofort an und beschwor eine weitere Kette herbei, die sich einfach in seiner Hand manifestierte und die er wie ein Lasso warf. Mit einem schwungvollen Knall landete sie auf dem Drachenfell, direkt am peitschenden Schweif. Shouta zog feste, die Schlinge schloss sich eng um den Schweif, und er rief: "Teban, jetzt!"

Teban reagierte keine Sekunde zu früh. Saya sah aus dem Augenwinkel, wie seine Lippen sich bewegten. Ein violettes Licht schoss aus seiner rechten Hand und fast im selben Augenblick endete das heftige Zerren an den Ketten, als Teban den Drachen vom Himmel holte. Das Wesen sackte in sich zusammen, gab plötzloch jeden Widerstand auf und stürzte haltlos ins Meer. Es gab ein lautes Klatschen, Wasser bäumte sich auf und durchnässte Saya und die anderen bis auf die Knochen, während sie weiterhin die Ketten sicherten, um den Drachen an der Wasseroberfläche zu halten, da er sonst hinabgesunken wäre.

"Wow", sprach Yin als Erster und klang hellauf begeistert. "Teban, das war unglaublich! Zeigst du mir, wie das geht?"

Teban beachtete den Jungen kaum und brummte irgendetwas vor sich hin, das Saya nicht recht verstehen konnte. Er schwebte aus der Luft zu ihnen herab und fand Halt auf dem Wasser, das sich unter seinen Schuhsohlen verfestigte. "Schaffen wir ihn ins Kloster, bevor er aufwacht. Der Zauber hält nicht lange an."
Und Saya blieb in sem Moment keine andere Option, als seinem Befehl Folge zu leisten.
Ach Chihiro, dachte sie mit nagendem Gewissen gegenüber dem Mädchen, du hättest besser auf ihn achtgeben sollen.

Spirited. Always.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt