Traumstein

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Es war noch Nacht, als Chihiro aus ihrem traumlosen Schlaf erwachte. Obwohl es früh war, fühlte sie sich seltsam ausgeruht und nicht wirklich müde. Ihr Blick fiel zuerst auf die Hand, die neben ihr auf dem Kissen ruhte und ihr wurde bewusst, was sie geweckt hatte: der rundgeschliffene Stein an ihrem Ring. Er leuchtete.

Sie setzte sich auf und schob sich das Deckengewirr von ihren Beinen. Ihre ganze Hand kribbelte; ein Gefühl wie ein eingeschlafener Körperteil. Verwundert musterte sie das Schmuckstück, das ein alter Mann ihr in einer anderen Welt geschenkt hatte, und ließ ihren Blick weiterwandern. Nein, nichts. Irgendwie hatte sie für einen Moment gedacht, die roten Striemen auf ihren Armen, die sie sich im Kloster in ihrer Panik selbst zugefügt hatte, wären verschwunden, auf magische Weise verheilt, doch sie waren noch da und mit Schorf überzogen. Chihiro schüttelte nur den Kopf und schwang die Beine über den Futon. Mit noch gesenktem Kopf kam ihr ein neuer Gedanke, der nicht von ihr ablassen wollte. Eine Idee, die sie wahrscheinlich niemals als klug erachtet hätte, wäre sie nicht so von der Tatsache angefressen gewesen, dass ihr die Antworten auf ihre Fragen verwehrt wurden und sie die ganze Zeit über im Dunkeln tappte. Sie konnte nicht anders, als leise durch das Haus zu schleichen, vorbei an dem hölzernen Tisch und auf den schlafenden Drachen zu. Sein langer, stetiger Atem war das einzige Geräusch, das die herrschende Stille begleitete. Sie setzte bedacht ihre Füße auf, bewegte sich schnell und lautlos und trat geschickt um seinen langen Schweif herum. Sie konnte das Aufklingen der Angst nicht völlig unterdrücken, das sie dabei überkam, denn immerhin hatte sie mit eigenen Augen gesehen, was der Drache für Schaden anrichten konnte, wenn er sich bedroht fühlte. Man bedenke nur, wie das für die Große Halle geendet hatte.

Das Kribbeln wurde ein wenig stärker, als sie langsam neben ihm in die Hocke ging. Sie drehte den Ring an ihrem Finger mit dem Stein nach innen zu ihrer Handfläche, um den hellen Schein abzuschwächen, und streckte vorsichtig die Hand aus, darauf bedacht, Haku nicht zu berühren. Sie bewegte sie ganz langsam und mit nur einer handbreit Abstand vom Fell des Drachen entlang seiner Flanke. Der Stein an ihrem Finger strahlte dabei ein wenig heller und sie wollte die Hand schon wegziehen, denn auch das Kribbeln wurde intensiver und durchzuckte ihren Unterarm. Sie hörte jedoch nicht einfach auf, sondern ließ sie weiterwandern. Wandern, oberhalb seiner Bauchseite entlang der Flanke, über die starke Beinmuskulatur über die Brust, wo sie in den langen Hals überging. Dort schlug der Stein am stärksten aus - wie ein Metalldetektor, der einen besonders anziehenden Punkt ausgemacht hatte. Chihiro konnte sich keinen Reim auf die Bedeutung dessen machen, fragte sich, ob ihr schon zuvor eine derartige Regung des Rings aufgefallen war, aber nein.

Das Herz schlug ihr mit einem Mal bis zum Hals, als sie aus dem Augenwinkel ein gänzlich anderes Leuchten vernahm. Das Leuchten zweier Smaragde in der Nacht, die ihr so direkt zugewandt waren, dass Chihiro unbewusst die Luft anhielt. Sie rührte sich nicht - als könnte sie so mit ihrer Umgebund verschmelzen und sich unsichtbar machen! - und versuchte, einfach einmal nicht zu denken. Es fiel ihr nicht schwer, schließlich hatte sie eh keine Ahnung, was sie mit ihrer Entdeckung anfangen sollte. Doch bleischwer ruhten die Smaragde auf ihr, ließen keine Sekunde von ihr ab. Chihiro ertrug es kaum, sich so ertappt zu fühlen. Sie spürte, wie ihr Gesicht vor Verlegenheit brannte und beschloss, ganz langsam aufzustehen, sich umzudrehen und mit steifen Gliedern, die sich der Beobachtung bewusst waren, den Weg zurück zum Schlafbereich des Raumes gehen. Sie legte sich wortlos auf den Futon und kehrte der Feuerstelle den Rücken zu, zog sich die Decke bis unter die Nase und war froh, dass sie schneller wieder einschlief als erwartet.


Spirited. Always.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt