Wege zwischen den Welten

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Chihiro fuhr direkt wieder los, das Kästchen mit dem Ring gut in ihrem Rucksack verstaut. Sie konnte es noch immer kaum glauben, es sich nicht erklären trotzdessen, was der Mann sie gelehrt hatte. Aber er konnte ihr den Ring doch unmöglich einfach so zugesteckt haben - ein kostbares Familienerbstück, das in seinem Heimatland einen Namen mit solcher Bedeutung hatte - und selbst wenn es so war, konnte sie es unmöglich annehmen. Eine beinahe lachhafte Vorstellung.

Es war schon dunkel trotz des heißen Sommers. Der Regen hatte eingesetzt und machte ihr das Fahren nicht gerade leicht. Die Straße war nur spärlich beleuchtet und die nasse Erde verwandelte sie in ein Gewühl aus Matsch, in dem sie mit ihrem Roller schwer vorankam. Dennoch würde sie nicht umkehren; selbst wenn der Laden geschlossen hätte, sie würde das Kästchen notfalls mit einem Zettel in den Briefkasten vor dem Geschäft werfen. Die Notiz hatte sie nach mehrfachem Überlegen, auf der Suche nach passenden Worten, zu Hause aufgeschrieben:

Ich danke Ihnen sehr für Ihre weisen Worte, ich nehme sie mir sehr zu Herzen. Aber den Ring kann ich unmöglich annehmen. Besser, Sie geben weiterhin gut auf Ihr Erbstück acht; Sie als jemand, der dazu eine viel engere, tiefere Verbundenheit hat. Und Danke auch für Ihr Vertrauen.   - Chihiro

Niemals hätte sie mit so einer Geste gerechnet, denn Sympathie und Vertrauen hin oder her, was hatte er sich nur dabei gedacht? Vom materiellen Wert des Rings abgesehen, wies er eine noch größere spirituelle Kostbarkeit vor, der man mit Achtung und Respekt begegnen musste. Chihiro konnte immerhin den Respekt aufbringen, ihn zurückzugeben - ganz gleichgültig, wie sehr ihr der Ring auch von Anfang an gefallen hatte und wie gern sie ihn gehabt hätte.

Das Fahren wurde schwieriger und verlangte ihre gesamte Konzentration und auch Kraft, denn der Guss wurde immer heftiger, als sie durch den Wald fuhr. Gerade als sie überlegte an den Rand zu fahren und ihrem Vater Bescheid zu geben, geriet ihr Vorderrad ins Rutschen und sie verlor beinahe die Kontrolle. Der Roller kam vom Weg ab und Chihiro konnte um ein Haar verhindern, dass sie gegen einen Baum fuhr. Ihre Hand rutschte plötzlich vom Gas, sodass sie kaum etwas ausrichten konnte. Sie steuerte ins Nichts, denn der dichte Regenvorhang erlaubte es ihr kaum, ihre Umgebung zu erkennen. Sie ahnte nur, dass sie über ein Feld fuhr... und merkte viel zu spät, wohin die Reise ging. Der See tauchte so plötzlich vor ihr auf, dass sie den Lenker nicht herumreißen oder abspringen konnte. Ihrer Kehle entglitt noch ein Schrei, als sie über den Feldrand direkt ins Wasser stürzte. Ihre Hände klammerten am Lenker, wodurch das Gewicht ihre Gefährts sie mit nach unten zog. Chihiro stieß sich von ihrem Roller los und begann zu schwimmen, trat kräftig ins Wasser und wollte an die Oberfläche. Ihr Helmgurt schnürte sich um ihr Kinn und das harte Plastik umschloss ihren Kopf. Sie versuchte ihn unter Wasser zu öffnen, strampelte dabei mit den Beinen, um aufzutauchen. Der Helm löste sich zwar, doch die Oberfläche schien sich immer weiter von ihr zu entfernen, anstatt dass sie sich darauf zu bewegte. Chihiro kämpfte immer stärker gegen das Wasser an, doch es war, als würde sie in die Tiefe gezogen. Eine endlose Tiefe, die sie ganz verschluckte.

Spirited. Always.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt