Säen und Ernten

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Die Kälte der Natursteinplatten drang durch die zarten Stoffschichten des Kleides und ließ sie frösteln, als sie auf Knien und mit um den Leib geschlungenen Armen am Boden kauerte, zitternd und von eisiger Leere erfüllt, die mit der Kühle allerdings nicht's zu tun hatte.

"Interessant."

Chihiro brauchte ein paar Sekunden um sich zu sammeln. Sie hatte geglaubt, die Begegnung mit Haku wäre wahrhaftig gewesen. Real. Aber das war sie nicht, trotzdem es sich echt angefühlt hatte. Es war so überzeugend gewesen; er war überzeugend gewesen. Aber man hatte ihr einen üblen Streich gespielt, wie sie erkannt hatte, nachdem sie sich mit rasendem Herzen am Fuß des Brunnens im Gewölbe wiedergefunden hatte. Chihiro fand erschreckend, dass sie trotz all der Erfahrungen, die sie machen musste, noch immer nicht in der Lage war die Realität von der Täuschung zu unterscheiden. Würde es ihr jemals gelingen? Würde sie immer wieder denselben Fehler machen, der unentwegt an ihren Nerven zerrte? Die Frage, was echt war, und was nicht. Es war etwas anderes, sich ganz bewusst damit auseinanderzusetzen und ständig alles und jedenzu hinterfragen. Es kostete Nerven, es rüttelte am Selbstvertrauen. Daran litt Chihiro ganz besonders, und nun machte Torai sich auch noch über sie lustig.

"Ich dachte nicht, das Götter grausam sind", sprach sie und unterdrückte die Wut nicht, die sich wie die Wogen eines stürmischen Meeres in ihr anbahnte, "aber das war wohl ziemlich naiv von mir." Mit Bitterkeit fügte sie noch hinzu: "Danke für diese Lektion."

"Grausam", wiederholte das Löwenpaar, das Chihiro nun eigentlich nicht mehr als Paar betrachtete, denn schließlich handelte es sich dabei um ein und dieselbe Person. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass das Torai's wirkliche Gestalt war, sondern viel mehr eine Verkleidung. Denn ihr war inzwischen eingefallen, was diese beiden Löwen bedeuteten: Es handelte sich um Komainu, Wächtergötter. Sie erinnerte sich an das Haus ihrer Großeltern, deren liebevoll hergerichtete Veranda, auf der diese Gottheiten als Statuen standen um böse Einflüsse abzuwenden.

"Ich wollte eigentlich höflich sein", erklärte sie ruhig, "aber Sie haben eben sehr deutlich gemacht, dass Sie sich nicht für Höflichkeiten interessieren."

"Ach, habe ich das?"

"Allerdings", bestätigte sie mit eisiger Stimme.

Die Löwengestalten hatten wieder dieses Funkeln in den goldgelben Augen und wären ihre bronzenen Leiber nicht wie versteinert, hätte Chihiro schwören können, dass sie grinsten. "Du meinst also, das wäre mein Werk gewesen?"

Am liebsten hätte sie den Gefühlen, die in ihrem Herzen wie ein dunkler Sturm zusammenbrauten, jetzt freien Lauf gelassen. Hätte ihm gesagt, dass er sich lieber in Gestalt einer Ratte präsentieren sollte, weil es besser zu seinem Benehmen passte; dass er sein großes Gefolge wohl dringender brauchte, als sie dachte, wenn er sich mit derartig miesen Tricks einen Namen machte; dass er sich zum Teufel scheren sollte für seine Scheinheiligkeit. Es fehlte ihr an nichts, um ihm genau das zu sagen, wäre da nicht die leise Warnung, welche ihr Innerstes ihr zurief. Eine Warnung, dass sie ihre Worte noch sehr bereuen könnte, denn es waren nicht die ihren. Ebenso wenig waren es ihre wahren Gefühle. Wut? Chihiro gehörte nicht zu den Menschen, die leicht in Rage gerieten und ihre Unzufriedenheit derartig auf irgendetwas projizierten.

Dieses verdammte Blatt, das ich geschluckt habe, verstärkt eindeutig nicht nur schöne Gefühle, erkannte sie missmutig und rügte sich gedanklich im sarkastischen Tonfall: Oh Götterdrogen, na das kann ja überhaupt nichts Schlimmes sein. Was soll schon schiefgehen? Pah... Nie wieder nehme ich dieses Teufelszeug!

Darum hielt sie vorerst den Mund, bekämpfte den mächtigen Gefühlsstau, und beobachtete Torai ganz genau.

"Ich bin nicht scheinheilig", erklärte er, als hätte er den Vorwurf in ihrem Gesicht gelesen. "Ich kann genauso wenig lügen wie du es kannst. In meinem Haus fordere ich diesbezüglich gleiches Recht für jeden."

Spirited. Always.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt