Der unendliche Fluss (2/3)

101 7 1
                                    

Wie eine unsichtbare Hand glitt ihre vereinte Macht über die schwere, dunkle Mauer, die der Dämon wie einen stählernen Käfig um Haku's Seele errichtet hatte. Es war geradezu leicht gewesen hineinzukommen, dafür aber umso schwieriger, den Rückweg anzutreten. Allein wäre es unmöglich gelungen, doch mit ihrer vereinten Kraft, die Haku so erstarken ließ, begann sich die Dunkelheit unter der schieren Gewalt seiner Seele aufzulösen. Das Dunkel war machtlos gegen sie.

Aufhören, brüllte der Dämon, was Chihiro fast ein Lächeln entlockte und sie die Panik vergessen ließ.

Aufhören!

Halt die Klappe und ertrag es wie ein Mann, fauchte Chihiro und legte in der nahenden Gerechtigkeit noch mehr ihrer Energie hinein. Mehr. Und mehr. Für alles, was du uns angetan hast, du Biest!

Chihiro, zerriss Haku's bebende Stimme die Finsternis, der Chihiro jetzt wie ein Bluthund nachjagte, blind für alles andere. Sie erkannte das schwache Leuchten, das sich hinter der schwarzen Aura verbarg. Es war der Pfad zwischen den Dimensionen, den der Dämon geschlagen hatte - die Passage, die in seine Welt führte. Aber musste er dadurch zurückkehren? War es fair, ihn entkommen zu lassen? Sollte er einer Strafe entgehen für alles, was er bereits angerichtet und die Pläne, die er so unerbittlich verfolgt hatte? Und vor allem, wer garantierte, dass er für immer verschwinden würde, sobald er sich wieder in seiner Welt befand? Was, wenn er bei der nächstbesten Gelegenheit wieder ein Schlupfloch finden und einem anderen Gott das antun würde, was Haku hatte erdulden müssen?

Wir kriegen ihn, meinte Chihiro und beobachtete mit Genugtuung, wie das gewaltige Brennen ihres Lichts die Macht des Dämons verzehrte. Wir kriegen ihn endlich!

Haku ließ sich von ihrem neu entdeckten Enthusiasmus nicht anstecken. Ruhig und warnend sprach er unbeirrt: Ja, wir kriegen ihn. Und wenn du so weitermachst, werden wir ihn zerstören.

Gut, dachte sie und konnte nicht behaupten, dass der Dämon ihr auch nur ein bisschen leid tat, während sie zusah, wie ihr Licht über die Dunkelheit hinwegfegte. Ja, sie wollte, dass das Biest für seine Taten zur Rechtschaffenheit gezogen wurde. Dass es sich wünschte, es hätte sich nie an Haku vergriffen, nie einen Fuß in diese Dimension gesetzt.

Aber auch wir werden dann sterben.

Chihiro runzelte die Stirn. Du kannst nicht sterben. Und ich... Naja, ich bin irgendwie schon tot.

Das bist du nicht, widersprach Haku streng. Du hast deinen Körper aufgegeben. Tot bist du nicht.

Haarspalterei, schnauzte sie ihn verwirrt an. Was kann uns denn jetzt bitteschön noch passieren, hm? Haku, gleich haben wir ihn! Wir können ihn endgültig loswerden, dann ist er nie wieder eine Gefahr für jemanden, weder in dieser Welt noch in irgendeiner anderen.

Auch ich will ihn bestrafen, sprach er und Chihiro wollte sich schon zufrieden wieder dem Dämon zuwenden, der nicht mehr verzweifelt brüllte, seit Chihiro sich so ablenken ließ. Verdammt, glaubte er denn tatsächlich, er käme noch irgendwie davon?

Was ich aber noch mehr will, ist, dass du lebst.

In einer Mischung aus Seufzen und Erwiderung setzte sie an, doch Haku ließ sie nicht zu Wort kommen: Wenn du jetzt aufhörst an dir festzuhalten, mir alles gibst, was du hast, was du bist, vernichtet es uns genauso. Du spürst es und ich spüre es. Je mehr ich an Stärke gewinne, umso weniger wirst du. Von dir ist kaum etwas übrig.

Das ist unfair!, protestierte sie, weil ihr nichts Erwachseneres einfiel, das sie hätte antworten können. Er darf nicht einfach so davonkommen, nachdem er dich jahrelang in der Mache hatte!

Obwohl er einem Menschen nie weniger ähnelte als in diesem Moment, wo seine Seele zu einem Koloss angewachsen war, der alles um sich herum verdrängte, schien Haku die hauchdünnen Fäden ihrer Seele behutsam zu umfangen. Sein Griff war so unfassbar sanft, als hielte er einen aufmüpfigen Schmetterling in den Händen, der sich trotz gebrochener Flügel immer wieder zum Flug erheben wollte.

So siehst du mich?, fragte sie erschüttert, als sie merkte, dass Haku ihr dieses Bild geschickt hatte. Hielt er sie wirklich für so klein und schwach wie diesen Schmetterling? Für so... gebrechlich? Denn das war sie nicht. Das war sie nie gewesen. Sie wusste, wie stark sie war und was sie bewirken konnte. Endlich, nach alldem, wusste sie es und würde sich nicht klein halten lassen.

Nein, sprach er bedächtig. Ich halte dich nicht für schwach. Du bist ein Kämpfer, das habe ich immer gewusst. Das bewundere ich an dir, Chihiro. Und ich weiß, dass du diesen Kampf gewinnen kannst.

Dann lass mich. Lass es uns zu Ende bringen, bat sie und sah sich  tatsächlich wie dieses kleine Wesen in seiner Hand.

Nicht du bist der gebrochene Schmetterling, Chihiro.

Sie erstarrte einen Augenblick, als eine Welle der Verwirrubg sie erfasste.
Ich verstehe nicht..., gestand sie kleinlaut.

Du hast es in der Hand, was aus mir wird. Was aus uns wird. Tu nichts Unüberlegtes. Ich kann nichts tun, wenn du dich jetzt dafür entscheidest. Aber willst du die Rache deinem Leben wirklich vorziehen?
Einem Leben mit mir? 

Frustriert dachte sie nach. Was wollte er ihr nur mit diesem Bild sagen? Seine Worte...
Ja, sie wollte es dem Biest heimzahlen. Nicht nur, weil es Haku seit Jahren quälte, sondern auch, weil es ihr und anderen zu viel zugemutet und angetan hatte. Saya würde ihr Auge nicht wiederbekommen. Das Kloster hatte nie zuvor so angreifbar dagelegen, ohne seine Schutzschilde. All die Hebel, die in Bewegung gesetzt wurden, um das Wüten des Dämons zu beenden, durften nicht vergebens sein...

Und trotz alldem wusste Chihiro, wie ihre Antwort auf die Frage ausfiel. Sie durfte nicht vergessen, woraus sie gemacht war; Teban hatte sie immer einen Menschen geschimpft, dabei würde er nie wissen, was das bedeutete. Halu verstand es. Er wusste, wofür die Menschen jeden Tag kämpften - wofür Chihiro kämpfte. Das Leben, etwas Glück, Liebe.
Komme, was wolle.

Sie kämpfte nicht für Rachsucht. Sie kämpfte für ihre Freiheit, wie jedes Lebewesen zwischen Himmel und Erde.

Haku legte seine Hand um die dünnen Fäden, die plötzlich wieder so fest wurden wie Drahtseile. Chihiro hätte fast geschmunzelt.

Und jetzt?

Jetzt schicken wir ihn da hin, wo der Pfeffer wächst, meinte Haku mit einem Zwinkern, als er ihre Worte wieder aufgriff.

Der Schatten hinter der eisigen Mauer war keine bloße Illusion. Umgeben von dem Nachleuchten seiner eigenen Dimension war es die Essenz des Dämons, die in dieser Dimension fußgefasst hatte. Eine schemenhafte Gestalt, hinter der Chihiro ein markantes Wesen erkannte, das einem riesigen Tiger nicht unähnlich war. Einem gehörnten Tiger mit abartiger Fratze.

Nun hieß es eine Seele gegen die andere.

Chihiro und Haku waren eins. Seine Bewegungen waren ihre Bewegungen. Und so hielt Haku direkt auf den Dämon zu, wo nun keine Mauer mehr zwischen ihnen stand.

Das erste Aufeinanderprallen ließ den Himmel erzittern und Wind und Regen brachen los, als würde er weinen.

Spirited. Always.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt