Schwarzer Schatten

163 18 10
                                    

Die lähmende Furcht verschwand, als wäre sie nicht mehr als ein rotes Licht gewesen, dem man auf Knopfdruck den Strom geraubt hatte. Eine plötzlich eintretende, bislang ungekannte Stille ergriff sie. Das fortwährende Gedankenkarussell, welches ihren Geist beherrschte, hatte mit einem Mal innegehalten; wo waren sie nur hin, all die Gedankenpfade, die in tausende Richtungen verliefen, ohne je einen Orientierungspunkt zu finden, das unkontrollierte Mischmasch der Gefühle, das sie immer wieder zu Hals-über-Kopf-Reaktionen trieb? Mit einem Mal war alles fort. Doch was war es, was an deren Stelle trat? Der dunkle Tunnel wirkte nicht mehr, als würde die Finsternis ihn verschlucken. Völlig klar erschienen Chihiro die rohen, geglätteten Steinwände und nichts Beängstigendes haftete mehr an ihnen. Selbst das Gefühl bedrückender Enge war gänzlich verschwunden und die Ruhe, die ihren Körper flutete, brachte jenes Stimmchen der Verzweiflung zum Schweigen.

Wie eigenartig, dachte sie und rieb die Fingerkuppen beieinander, als müsste sie feststellen, dass sie noch Körpergefühl hatte. Was eben geschehen war, war keine Einbildung gewesen. Oder?

Nein. Nein, er war da.

Und doch fühlte es sich unwirklich an. Wohin war die Unsicherheit, die sie innerlich zerrissen hatte? Wohin die nagende Angst des Augenblicks?

Der Stein des Rings an ihrer Hand erglühte, doch er vibrierte nicht, wie er es sonst tat. Die Farben von Blau und Türkis, die sonst in einem Schein von ihm ausgingen, waren zu einem schwachen Pastell erbleicht. Was hatte das zu bedeuten?

"Weitergehen", sprach sie laut, ohne zu wissen, woher diese gedankenlose Gewissheit kam. Sie war sich dessen bewusst, was nun kurz bevor stand, und doch empfand sie so etwas wie kühle Gelassenheit. Sie wandte sich zu der Wand um, die sie für eine Sackgasse gehalten hatte. Doch das war sie nicht - das musste sie nicht sein. Haku war unfassbar nah, sonst hätte der Dämon kaum die Verbindung zu ihr herstellen können. Egal, wie schwach Haku inzwischen sein mochte, er wehrte sich gegen den Einfluss der Kreatur und das bedeutete, dass diese ihr Potenzial längst nicht voll ausschöpfen konnte. Noch nicht.

Nein, die Kälte war kein Produkt ihres Panikausbruchs gewesen, erkannte sie, als ihre Hände sich auf das nackte Gestein legten, das ihr augenscheinlich den Weg versperrte. Die Kälte drang durch ihre Fingerkuppen wie hunderte kleiner Nadelstiche, während sie die Augen schloss und ruhig atmete. Der Ring tat trotz seines seltsamen Lichts seine Wirkung. Chihiro spürte, wie der Widerstand unter ihren Händen geringer wurde, immer und immer weiter abschwächte und schließlich ganz überwunden wurde. Es war, als träte sie durch eine Nebelwand, ein seltsames Druckgefühl in der Brust und im Magen, welches sie an das Hoch von Achterbahnfahrten erinnerte. Ihre Füße bewegten sich scheinbar durch dasselbe Nichts, sodass sie nicht wusste, ob sie überhaupt vorwärts kam. Der Sturz durch die Glaskuppel in den Garten hatte sich längst nicht so angefühlt, alles war ziemlich schnell gegangen und die Glasfassade war nur zentimeterdick gewesen. Wie es mit der Steinwand und dem, was sich jenseits befand, stand, wusste Chihiro nicht.

Laufe ich ins Nichts?, fragte sie sich, jedoch ohne einen Anflug von Angst oder Aufregung. Eine simple, rationale Frage. Doch schon endete der Marsch durch den Stein. Ihre nach vorn gestreckten Hände wurden von eisiger Kälte empfangen, als sie durch den Nebelschleier drangen, ehe der Rest ihres Körpers folgte.

Was ist hier los?, fragte sie sich und schlang die Arme um den Leib, als ihre Füße auf gefrorenem Boden zum Stehen kamen. Das erste, was sie sah, war, dass sie überall von Blau und Weis umgeben war. Die kreisrunde Steinwand, die halb im Schatten lag, und die Decke des höhlenartigen Raums waren von einer blanken Eisschicht überzogen. Der Boden war eisig und so glatt wie ein Spiegel. Chihiro spürte die beißende, trockene Kälte, doch ihr Kopf blieb klar und schenke den Umstand kaum Aufmerksamkeit.

Spirited. Always.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt