Auge in Auge

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Die Entfernung zur Erde wuchs unglaublich schnell. Sie wimmerte vor Angst, krallte sich an dem Einzigen fest, das ihre Hände zu fassen bekamen: eben jene Klauen, die sie an der Taille umschlangen. Sie ignorierte den stechenden Schmerz der ihr sagte, dass die Klauen durch den schraubstockartigen Griff ihre Haut aufrissen, und klammerte sich aus Leibeskräften fest. Zumindest hatte sie aufhören können zu schreien und brachte es fertig, den betäubenden Schreck zu überwinden, der sie daran hinderte, einen klaren Gedanken zu fassen. Die Furcht saß ihr in den Knochen, aber sie riskierte einen Blick nach oben. Weiße Schuppenpracht, die ins Schwarze überging; ein langer, glatter Körper, dem ungeheure Muskelkraft innewohnte. Chihiros Herz klopfte ihr bis zum Hals, sie unterdrückte mit Not den Reflex wieder loszuschreien. Sie fragte sich jedoch, wovor sie in dieser Sekunde schlichtweg mehr Angst hatte: vor dem Drachen, der sie unerbittlich festhielt, oder der Gefahr zu Fallen, falls sie irgendeinen Versuch unternehmen sollte, sich zu befreien. Der Albtraum, den sie erst kürzlich gehabt hatte, nahm ihr die Entscheidung ab. Das Gefühl des Fallens... Nein!  Das wollte sie ganz bestimmt nicht noch einmal durchleben müssen.

Lass mich nicht los! Lass mich bloß nicht los!

Der Wind wurde immer stürmischer, je höher der Drache mit ihr flog. Ihr Zopf peitschte umher, das gewickelte Kleid entblößte durch den Druck des Windes ihre Beine, die sie stillzuhalten versuchte. Doch am meisten zu schafften machte ihr die Frage, was sie tun sollte. Sie konnte nichts unternehmen. Sie konnte nur zusehen, wie das Kloster mitsamt des Berges in die Ferne rückte und miterleben, wie der Drache mit ihr in das schier endlose Wolkenmeer eintauchte. Es wurde immer kälter je höher sie aufstiegen, fast schon eisig. Chihiro zitterte und kniff die Augen zu, die bereits tränten vom heftigen Gegenwind. Wie lange flogen sie? Chihiro kam es vor wie Stunden. Die Panik in ihr ließ nicht nach; ihr Herzschlag wollte sich nicht beruhigen, solange sie keinen festen Grund unter den Füßen hatte. Vermutlich auch selbst dann nicht.

Ein flaues Gefühl überkam sie in ihrer Magengegend und es dauerte bis sie registrierte, dass der Drache nun rasch tiefer flog. Der Boden schien viel zu schnell näher zu kommen. Eine Achterbahnfahrt mit freiem Fall wäre eine Lachnummer dagegen gewesen! Ihre Finger gruben sich in die raue, haarige Haut des Drachens und sie strampelte bestmöglich mit den im Gegenwind flatternden Beinen, als könnte sie so irgendwie den drohenden Sturz verhindern - ganz gleich, wie idiotisch diese Vorstellung auch war, doch ihr rationales Denken setzte in diesem elendig langanhaltenden Moment aus. Chihiro war kurz schwarz vor Augen, da brachte sich der Drache in Segelstellung und sie glitten sanft durch die Lüfte, statt hinabzustürzen. Die Erleichterung, die sie daraufhin durchflutete, wäre mit jedem Frieden der Welt vergleichbar gewesen. Ihr entfuhr sogar ein Seufzen, das die enorme Anspannung in ihrem Leib etwas löste. Als der Drache schließlich landete, fiel sie beinahe ganz von ihr ab. Sobald ihre Füße den Boden berührten, sackte sie unter der plötzlichen Schwere ihres Körpers in sich zusammen und wäre sicher gestürzt, hätten die Klauen sie denn freigegeben.

Chihiro nahm sich die Zeit, gegen die aufkeimende Übelkeit anzuatmen und sich die Tränen von den Wangen zu wischen. Sie stand mit den Füßen zwar auf grasbewachsenem Grund, doch die Kraft in ihren Beinen kehrte nur schleichend zurück. Vielmehr aber wurde sie sich des Schmerzes bewusst, der durch die Angst und den damit verbundenen Schock bislang betäubt gewesen war. Sie wollte sich instinktiv krümmen, doch angesichts der Krallen, die sich um ihre Taille schlangen, war es nicht möglich. "Au", stöhnte sie leise und nahm sich gleich darauf zusammen. Erst als sie einigermaßen sicher stand, ließ der Drache von ihr ab und suchte etwas Abstand. Chihiro wusste nun, wie sich eine von der Katze in die Enge getriebene Maus fühlte. Der Drache hatte sie nicht einfach irgendwo abgesetzt. Es war ein kleines Tal, das von hohen, dicht beieinander stehenden Bäumen umsäumt wurde, sodass Chihiro sich vorkam, als befände sie sich in einer Arena. 

Ein merkwürdiges Knurren ließ sie ihren Blick wieder auf den Drachen heften, der nur wenige Meter vor ihr kauerte. Er sah aus wie eine zum Sprung bereite Katze, hielt den Kopf geduckt und sah sie dabei direkt an. Und was Chihiro sah, ließ ihr den Atem stocken: weise Augen, ganz wie Saya es beschrieben hatte. Totes Weis, in dem kein Gefühl, keine Seele zuhause war.

Ganz ruhig bleiben, mahnte sie sich. Nur keine hektischen Bewegungen.

Chihiro blieb still stehen, aber der Schmerz in ihrer Taille ließ keine Sekunde nach. Langsam ließ sie ihre Hand dorthin wandern, ließ dabei den Drachen nicht eine Sekunde aus den Augen, und presste sie auf die Stelle. Die Spitzen der Klauen hatten sich tatsächlich auf der rechten Seite in ihr Fleisch gebohrt, doch es schien nur halb so schlimm zu sein. Es blutete nicht einmal.

Verflucht, tut das weh!, schoss es ihr dennoch immer wieder in den Kopf und sie riss sich zusammen, dem nicht nachzugeben und keine Miene zu verziehen. Alles, was sie von dem furchtbaren Brennen ablenkte, war ihr beeindruckendes, beängstigendes Gegenüber. Ja, beängstigend... Nein. Wenn sie ganz ehrlich war, verspürte sie dem Wesen selbst gegenüber kaum Furcht. Es war etwas völlig Anderes, das sich in ihre Gefühlswelt mischte, je genauer sie den Drachen betrachtete. Und es war, als würde sich ein Schleier lichten, der ihr zu lange schon die Sicht getrübt hatte.

"Als kleines Mädchen, bin ich in einen Fluss gefallen", wisperte sie und wusste, dass er ihr zuhörte. "Und der Name des Flusses war -"

Chihiro erfasste ein unangenehmer Druck im Schädel, der sie daran hinderte sich dessen zu erinnern, was sie damals gesagt hatte. Und doch war ihr klar, dass dieser Drache, der sich so bedrohlich vor ihr aufbaute, keineswegs ein Fremder war. Je mehr sie darüber nachdachte, je mehr sie eben diese Wahrheit akzeptierte, umso klarer wurden auch die Bilder in ihrem Kopf, auf die sie sich bisher keinen Reim machen konnte.

Eine weiße Schlange, die sich durch die Lüfte wand, verfolgt von weißen Papiermännchen. Chihiro, die über der hölzernen Brüstung lehnte und dem Drachen zurief: "Du musst durchhalten! Komm zu mir!" Und die Sorge, die sie verspürte, als sie das Karmesinrot zwischen dem weißen Fell schimmern sah. "Tut es sehr weh?", hatte sie erschrocken gefragt.

Dennoch fehlte etwas, dass sie alles begreifen ließ. Sie kannte diesen Drachen, aber...

"Was ist nur mit dir?", fragte sie leise mit belegter Stimme. Sie suchte seinen Blick, doch das Weis in seinen Augen hatte nichts Menschliches. "Damals hast du so anders ausgesehen." Wieder musterte sie sein Schuppenkleid und schluckte. Der Drache nahm ihre Blicke nur allzu deutlich war, wie seine Körpersprache zeigte: er hatte sich aus dem Kauern aufgerichtet, stand auf allen Vieren und präsentierte sich ihr in voller mystischer Pracht. Das meeresgrüne Fell, das seinen Rücken hinabreichte, wehte in der lauen Brise und seine beiden langen, tentakelähnlichen Fühler, die vom Maul abgingen, zuckten hin und her wie der Schwanz einer verspielten Katze.

Chihiros Anspannung schwand dahin, wurde ersetzt durch Sorge und ein Maß an Mut. Die Augenpartie des Drachens ließ sie erahnen, dass auch er sie betrachtete. Es ging nichts direkt Bedrohliches mehr von ihm aus, viel mehr wirkte er... aufmerksam? Sie mochte sogar fast sagen, entspannt. Und all dies verlieh ihr den Mut, langsam vorwärts zu gehen.



Spirited. Always.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt