Drachen und Zerbrochenes (3)

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Chihiro begleitete Saya in einen weitläufigen Saal, den man gleichermaßen als Büro, Versammlungsraum und Bibliothek bezeichnen konnte. Sie waren nicht die Einzigen; Hora stand mit einigen anderen - vermutlich weitere Novizen - um einen runden Tisch. Chihiro kam nicht umhin den Vergleich mit König Arthus' Tafelrunde anzubringen, denn es ähnelte der Situation viel zu sehr. Saya nahm ihren Platz in dem Kreis ein und wies Chihiro einen Stuhl zu, der etwas abseits des Tisches stand.

"Dieses Biest hat einfach den Schutzbann gebrochen!", wütete Teban und fuhr sich mit der Hand durch das kurz geschorene blonde Haar. "Ich habe nur wenige Wesen mit so großer Macht erlebt."

"Direkte Spuren haben Shuta und ich nicht gefunden", warf eine Frau mit schwarzem Haar ein, "aber die Stelle, an der das Siegel gebrochen wurde, weist Anzeichen von Dunklen Künsten auf. Das Siegel war kaum mehr zu erkennen; es war von pulsierenden, schwarz-violetten Adern bedeckt, als hätte es jemand ausgeblutet. Die Luft war ganz aufgeladen von dem Zauber, wir konnten also nicht sehr nah herangehen."

Chihiro vermutete, dass ihr Name Yama war - von Shuta und Yama war die Rede gewesen als es hieß, dem Drachen zu folgen. Auf Chihiro machte sie einen ziemlich toughen Eindruck. Sie trug nicht das gelbe Gewand der Mönche, nicht so wie Chihiro. Sie trug so etwas wie eine Cargohose mit vielen Taschen, einen breiten Gürtel, an dem ein schmales Etui befestigt war, und ein langes opalblaues Top, dessen Ärmel sie mit geflochtenen Bändern hochgebunden hatte. Chihiro erkannte ihre muskulöse Statur unter der Kleidung, was ihr die für Frauen typische Zierlichkeit nahm. Dennoch war sie verdammt schön und hatte einen tollen, trainierten Körper, langes schwarzes Haar, dass ihr in Wellen über den Rücken fiel, und ein schmales, aber kantiges Gesicht. Chihiro war für gewöhnlich mit sich selbst zufrieden, doch wenn sie Yama anschaute - und sah, dass sie selbst die Blicke einiger Mönche auf sich zog - verspürte sie doch so etwas wie Neid. Chihiro war nicht sonderlich sportlich, hatte keine auffallenden Kurven und nicht solche herrlichen Locken, wie sie sonst nur Models besaßen. Yama stellte selbst diese in den Schatten - ein schwacher Trost.

Saya sprach und riss Chihiro somit fort von den unwichtigen Oberflächlichkeiten. "Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen, aber ich glaube nicht, dass es ein Angriff war."

"Wie kommst du darauf?", hakte ein glatzköpfiger Mann nach, der dicht bei Hora stand. Sie sahen sich recht ähnlich, doch vielleicht lag es nur an dem blanken Haupt.

"Was sollte ein Drache von uns wollen, wenn er so mächtig ist, wie Yama sagt?", sinnierte sie. "Unsere Elixiere sind auf Anfrage problemlos erhältlich, unsere wertvollsten Zauberformeln werden bekanntermaßen im Hohen Turm, etliche Meilen von hier entfernt, sicher unter Verschluss gehalten. Warum also das Kloster? Hätte er diebische Absichten gehabt, wäre er direkt zum Turm gen Süden geflogen."

"Vielleicht war es ein Unfall und er ist abgestürzt", warf ein junger Mann in gelber Kutte ein. "Er schien meines Erachtens nach nicht bei bester Gesundheit zu sein."

Teban schnaubte verächtlich, lehnte sich vor und stützte sich mit den Händen auf den Tisch. "Ein Drache, der versehentlich ein mächtiges Siegel bricht, dass unsere Einrichtung seit fünf Generationen vor boshaft gesinnten Gottheiten und ihren Kreaturen bewahrt? Wem willst du das erzählen, Kairo? Man sollte meinen, ein Gelehrter wie du hätte mehr Grips!"

"Was mich am meisten beunruhig", unterbrach ein kleinwüchsiger Mann in der Runde, "ist das Böse, das ich gespürt habe. Kairo liegt schon nicht falsch damit, dass dieses Wesen nicht in guter Verfassung ist." Erst bei genauerem Hinsehen erkannte Chihiro, dass der Mann gar nicht kleinwüchsig war. Er saß im Rollstuhl und trug eine Armschiene, auch sein Kopf war frisch verbunden. 

Hora wandte sich ihm interessiert zu. "Deine Bedenken sind sicher nicht unbegründet. Würdest du das noch weiter ausführen?"

"Die Schwarzfärbung der Schuppen", antwortete er resigniert. "Ganz eindeutig."

Spirited. Always.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt