Drachen und Zerbrochenes (2)

398 29 1
                                    

"Als ich noch ein kleines Mädchen war, bin ich einen Fluss gefallen", erzählte sie. Ihre Hände umschlossen starke Hörner, weiches Haar streifte ihre Haut und ihre Beine umklammerten einen kräftigen, geschuppten Leib. Der laue Wind bließ ihr sanft das Haar aus dem Gesicht.

Es war als würde der Schleier, der ihre Erinnerungen trübte, immer durchdringlicher werden. Sie erinnerte sich des Drachens auf dem sie geflogen war, bei dem sie sich so unglaublich wohl und beschützt gefühlt hatte. Er, der ihr die Einsamkeit und die kindliche Unbeholfenheit vertrieb, als sie sich so allein und verloren gefühlt hatte.

"Du", flüsterte Chihiro und horchte in sich hinein, hoffte auf eine Antwort. "Du bist das."

"Was redest du da?"

Chihiro blickte auf und sah ihr Spiegelbild in einem stechenden Paar grauer Augen. "Teban."

"Hör auf zu brabbeln und geh. Du störst und wir haben zu tun, falls es dir nicht aufgefallen ist." Er wies auf das Chaos in der Halle und deutete dann auf die Tür, durch die Chihiro mit Hora hereingekommen war. "Saya bringt dich bestimmt gern in deine Kammer zurück, wenn du den Weg nicht mehr weißt."

"Was ist mit dem Drachen?", fragte sie und ignorierte seine kühle Art.

Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. "Du klingtst ja so besorgt."

"Es wurden ja auch Leute verletzt, oder nicht?!", antwortete sie und rang darum, den aufkeimenden Ärger zu unterdrücken. Verlockend war es dennoch, dem nachzugeben. "Wir sprechen hier von Drachen. Verzeih also, dass mich das im Gegensatz zu dir nicht kalt lässt."

Teban wurde kein Stück weicher - im Gegenteil. Seine Kiefermuskeln spannten sich an und sein Gesicht wurde so hart und unnachgiebig, dass Chihiro gern schreiend davongerannt wäre, wenn sie nicht ahnen würde, dass er eben genau das provozieren wollte. Die Art wie er sich vor ihr aufbaute zeugte davon, dass er Ernst machte. "Sieh dich vor, Mensch."

Mensch. Wie er es förmlich ausspuckte, klang es eher nach einer Beleidigung als nach einer Tatsache. Von der Drohung einmal ganz abgesehen. Nein, er und Chihiro würden bestimmt keine Freunde werden. Wie gut, dass Saya sich in diesem Augenblick wieder zu ihnen gesellte: "Teban, los jetzt! Hora erwartet deinen Bericht. Chihiro, du kommst mit mir, ja?"

Chihiro nickte dankbar und folgte Saya. Als sie sicher war, außer Hörweite zu sein, wandte sie sich an Saya: "Ist er immer so?"

"Teban? Ou ja, aber man gewöhnt sich daran... hoffe ich jedenfalls." Sie legte Chihiro eine Hand auf den Arm. "Das Beste ist es, du hältst dich von ihm fern. Er kann Menschen nicht ausstehen. Und wenn ich so darüber nachdenke, hatte er immer schon so seine Probleme mit Frauen."

Chihiro seufzte. "Chauvinist und Sexist in einer Person, na großartig."

"Teban hat keine sonderlich ausgeprägte soziale Ader, aber seine Talente wiegen die schlechten Seiten auf. Er ist einer der Besten seines Jahrgangs. Ach was, er ist einer der Besten überhaupt! Und ich hasse mich dafür, ihn zu bewundern."

Chihiro runzelte die Stirn. "Einer der Besten worin?"

Saya lächelte und trat an eines der Bogenfenster heran. Sie wies hinaus auf das weite Klostergelände. "Weißt du, das Kloster ist nicht nur eine religiöse Stätte und Kultivierungsanlage für alle möglichen Pflanzen", erklärte sie. "Hier werden einige Auserwählte in Sachen Magie und Zauberei ausgebildet. Und Teban ist einer der begabtesten Novizen, die es hier je gegeben hat. Es heißt, er wird schon bald in den Status eines Meisters erhoben. Damit stünde er im Rang noch über seinen Tutoren, stell dir das vor!"

Chihiro dachte darüber nach. "Dann sind Novizen also Lehrlinge der Zauberkunst?"

"Ganz genau. Ich bin auch Novizin, aber leider nicht so talentiert wie die meisten."

"Du bist mir aber jetzt schon eine der Liebsten hier", brachte Chihiro hervor und genoss die Wärme, die von Saya ausging. "Du, Saya..."

"Was denn?"

Chihiro sammelte sich, um wieder auf das Eigentliche zu sprechen zu kommen. "Wieso ist der Drache überhaupt hier gewesen?"

Saya zuckte die Schultern. "Keine Ahnung. Er hätte theoretisch nicht einmal in der Lage sein sollen, unseren Schutzschild zu überwinden. Es waren sechs Meister, die ihn vor etlichen Jahren errichtet haben und bislang ist noch nichts und niemand ohne weiteres hindurchgekommen. Deshalb ist es ja so eine große Sache."

Chihiro traute sich kaum die Frage auszusprechen, die ihr plötzlich in den Kopf kam, tat es aber trotzdem: "War das ein Angriff?"

"Das müssen wir erst noch herausfinden, aber für mich sah es nicht so aus."

"Du warst dabei?"

Saya nickte. "Ich hatte gerade ein paar Saatsäcke in den Vorratsraum getragen, als er aus dem Nichts durch die Decke gerauscht kam! Das Glasdach brach zusammen und sofort ging hier drinnen das Geschrei los. Der Drache ist herumgewirbelt, dabei hat er dann die Balken zerbrochen. Aber sein Blick. Er war irgendwie stechend und gehetzt. Ach, ich weiß auch nicht!" Saya schlang die Arme um ihren Leib, als würde sie frieren. Es war ihr sichtlich unangenehm. "Ich habe vorher schon einige göttliche Geschöpfe gesehen, aber dieser Drache... Irgendwas stimmt da nicht."



Spirited. Always.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt