Tibets Geschenk

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Der Morgen nahm seinen gewohnten Gang; ihre Mutter machte herrliches Frühstück, bestehend aus Reis, Tsukemono und etwas gegrilltem Fisch, den ihr Vater beim Zeitunglesen zu sich nahm, bevor er sich auf den Weg zur Arbeit machte. Chihiro half ihrer Mutter beim Spülen und kam nicht umhin, sich ab und an die Augen zu reiben.

 "Also wie du das immer schaffst, ist mir ein Rätsel", sprach ihre Mutter und suchte im Kühlschrank nach irgendeiner lindernden Crème, die sie trotz Chihiros Versicherungen, dass es nicht schlimm wäre, auf die dünnen roten Striemen im Gesicht ihrer Tochter schmieren wollte. "Was hast du denn letzte Nacht angestellt?" 

"Ich hatte einen komischen Traum und bin irgendwie aus dem Bett gefallen", gab sie zu, wollte aber gleichzeitig nicht mehr dazu sagen. Für gewöhnlich gab es nichts, worüber sie nicht mit ihrer Mutter sprechen konnte, doch in diesem Fall... Wer weiß, vielleicht würde ihre Mutter sie zu einem Arzt schleifen wenn sie ihr erzählte, dass Chihiro diese Stimme nicht nur in ihren Träumen hörte, sondern scheinbar auch im Wachzustand am helllichten Tag.

"Ich wollte nachher sowieso in die Stadt fahren. Soll ich dir aus der Apotheke vielleicht etwas mitbringen, dass du besser schläfst?" 

"Ach nein, danke. Ich fahre heute wieder ein bisschen rum und helfe später noch Papa mit der Garage. Dann bin ich heute Abend so erledigt, dass ich von selbst ins Bett falle und schlafe wie ein Stein", antwortete sie und rang sich ein Lächeln ab. Erst als sie das beruhigte Gesicht ihrer Mutter sah, konnte Chihiro wieder einen anderen Gedanken fassen. Ein Gedanke, der ihr letzte Nacht ein solches Unbehagen bereitet hatte, dass sie unmöglich wieder einschlafen konnte. 

Chihiro wartete nicht lang und schnappte sich ihren Rucksack, bevor sie sich mit dem Roller auf den Weg machte. Sie beschloss vorerst nicht wieder zum See zu fahren. Vielleicht war es ein kindischer Beschluss, aber der Traum war ihr einfach zu nahe gegangen. Stattdessen wählte sie im Wald die Straße, die die Hügel hinaufführte und die sie in die Stadt bringen würde. Mit dem Roller brauchte sie kaum eine halbe Stunde, mit dem Rad hätte es dreimal so lang gedauert. Chihiro verweilte bei der Freude über ihre neu gewonnen Vorteile und so ließ die Beklommenheit nach und nach von ihr ab. Sie schlenderte durch die Einkaufsstraße und stöberte hier und da in ein paar Geschäften, bis sie nach einer Weile den Schreibwarenladen erreichte. Was immer es war, was sie dorthin zog, Chihiro hinterfragte es nicht.

"Hallo. Wie kann ich Ihnen helfen, junge Dame?"

"Oh, ähm... ich weiß nicht. Ich möchte mich mal umsehen, schätze ich", antwortete sie achselzuckend und fasste sich an den Kopf. Der Mann nickte freundlich und ließ sie ein paar Runden durch den Laden drehen. Chihiro stieß auf nichts, das ihr Interesse sonderlich fesselte, und doch wandte sie sich noch einmal um, als sie das Geschäft schon verlassen wollte. Der Mann trug etwas aus dem Hinterzimmer hinter der Ladentheke nach vorn. Es war nur eine kleine Schachtel aus Holz, welche mit Schnitzereien geziert war. Chihiro trat näher an die Theke heran, wo der Mann sie abstellte und sich ein Poliertuch nahm.

Ihm fiel ihr neugieriger Blick auf, und seine Mundwinkel hoben sich. "Das ist ein sehr altes Stück, wissen Sie? Ich habe es vor Jahren aus Tibet mitgebracht; ein Erbstück meines Großvaters." 

"Eine Holzschachtel ist aber ein komisches Familienerbstück", bemerkte sie etwas unbeholfen. 

"Aber nicht doch. Genaugenommen ist es auch eher der Inhalt des Kästchens. Sehen Sie nur". Er klappte den Deckel der Schatulle auf und enthüllte ein schwarzes Samtkissen, auf dem ein fast unscheinbarer Ring lag. Er wirkte viel zu dezent für seine edle Verpackung, doch Chihiros Augen wurden so groß wie die eines verliebten Kindes. Es war ein kleiner Stein, groß wie der Kopf einer Stecknadel, geformt zu einer glänzenden Perle und eingefasst von mattem Silber. Die Perle strahlte in einem herrlichen Grünblau, das sich auf diesen Ansichtskarten von Orten mit Meerblick wiederfindet. Dieses satte Türkisgrün, gespickt mit kleinen Tupfen in Hellblau, Cognac und Tiefgrün.

Spirited. Always.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt