Sag, was wirst du geben?

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"Was der Brunnen offenbart ist ein Abbild dessen, was war, was ist oder dessen, was kommen mag", setzte Torai an. "Du selbst wirst wissen was die Bilder, die du gesehen hast, zu bedeuten haben."

"Haben Sie sie denn nicht gesehen?"

Keine Antwort.

Chihiro erschauderte, als sich der kurze Einblick, den der Brunnen ihr gewährt hatte, wie eine rasende Diashow vor ihrem geistigen Auge abspielte. War es das, was Haku bevorstand? Würde er sich, sobald die Dunkelheit seinen ganzen Körper ergriffen hatte, wahrhaftig in diese Bestie verwandeln, die schon jetzt immer häufiger in ihm zum Vorschein trat?

"Ist es wirklich nicht zu verhindern?" Chihiro schluckte. "Zeigt der Brunnen das, was unabwendbar passieren wird?"

Torai ließ sich erneut Zeit mit einer Antwort, was Chihiro wütend machte. Sie riss sich zusammen, um ihn nicht anzubrüllen wie wichtig diese Information war und was sie alles hatte mitmachen müssen, um jetzt hier zu sein.

"Ich weiß, weshalb du gekommen bist", sprach er bedächtig und trat einen Schritt vor, bis er so nahe war, dass sie die Kühle seiner bronzenen Beschaffenheit spüren konnte. "Ich habe die Gerüchte gehört und die Tatsache, dass du dich hergewagt hast, spricht für sich. Weil ich deinen Mut bewundere, gebe ich dir jetzt einen Rat: Kehre heim, solange du noch kannst."

Wieder klopfte der Zorn an die Tür zu ihrem Herzen. "Nein", presste sie zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. "Sie mögen nicht verstehen, was Freundschaft bedeutet, aber ich schon. Und deshalb werde ich auf keinen Fall gehen."

Die Augenpaare funkelten belustigt. "Menschen", schmunzelte er, "immer so emotional. Eine seltsame Eigenschaft, das eigene Heil zurückzustellen zum Wohle eines anderen. Aber dir ist nicht im Geringsten klar, welchen Preis du dafür zahlen wirst. Also sag mir, Mensch", er unterbrach sich bedeutungsvoll und reckte die Brust heraus, "würdest du deine eigene Seele verraten, um die dieses jungen Gottes zu retten?"

Chihiro war ganz still geworden. Es gab nichts, weder ihre Gedanken noch ihr Herz, das ihr in diesem Moment zu einer Antwort verhalf. "Ich weiß es nicht", gestand sie und schämte sich sogleich. Eigentlich sollte sie nicht zögern, oder? In jedem Film, in jedem Buch kam doch der Moment für den Helden, in dem er sich beweisen musste und bedingungslos für die Bedürftigen einstand. Er fürchtete sich nicht vor Konsequenzen, solange seine Liebsten in Sicherheit waren.

Aber ich bin kein Held, wurde ihr schweren Herzens klar. Ich bin ein Mädchen, das sich eindeutig überschätzt hat. Absolut naiv.

"Haku hat ein gutes Herz", brachte sie schließlich hervor und senkte den Blick auf ihren Ring. "Ich weiß, dass noch Gutes in ihm steckt, denn es verbindet uns. Und solange das Gute nicht völlig verloren ist, werde ich tun, was immer ich kann!"

"Du musst verstehen lernen, was es bedeutet, wenn ein Gott seine Seele verliert. Die Schäden, die dieser Prozess anrichtet, lassen sich nicht leicht beheben, und die völlige Auslöschung ist bereits nahe. Schon bald wird Haku kein Gott mehr sein, und bevor er das letzte Stadium seines Zustands erreicht, werden sich die mächtigen Götter gegen ihn erheben. Doch auch dann ist er für dich und diese Welt verloren, denn sie werden ihn verschlingen, auf das seine göttliche Seele niemals die Finsternis der Dämonen nähren wird."

Chihiro fiel es nicht leicht, das zu verdauen. Haku sollte - wie krankes Herdengetier - von seiner eigenen Art verspeist werden, bevor Dämonen dazu die Gelegenheit hätten. Seltsam nebenbei bemerkt, dass Chihiro noch gar nicht der Gedanke an die Existenz von Dämonen gekommen war, aber es sollte sie nicht wundern. Für alles gab es schließlich ein Gegenstück.

"Begib dich zurück zum Ort der Schriften und des Wissens, suche nach dem Anfang aller Anfänge."

"Bitte wonach soll ich suchen?", fragte sie ehrlich verwirrt.

Torai tat ihre Frage ab: "Du hast erfahren, was du von mir erfahren musstest. Nun solltest du gehen, Mensch, denn sonst gibt es nichts mehr zu retten, wenn deine naiven kleinen Freunde erst mit ihm fertig sind."

"Meine Freunde? Welche Freunde?" Sie schluckte in böser Vorahnung.

"Die jungen Schüler, die gerade mit ihrer Beute heimkehren."

"Beute", echote sie und fiel aus allen Wolken. "Aber sie können uns unmöglich so schnell gefolgt sein! Da hätten sie schon über das Meer laufen müssen."

Das Löwenpaar legte sich nieder, schlug die Tatzen übereinander. "Unmöglich ist ein Wort der Menschen. Wann begreifst du das wohl endlich?"

"Ich muss ihnen sofort nach", sagte sie und wandte sich schon zum Gehen.

"Nachdenken ist eindeutig nicht deine Stärke", murrte Torai, woraufhin Chihiro verharrte. "Wie willst du ihnen folgen, hm? Schwimmen?" Er lachte, doch es war ein bitteres Lachen. "Der Ring vermag dir so manche Zauberei zu gestatten, aber mach dir nichts vor; mit den Schülern der Alten Kunst kannst du längst nicht mithalten."

"Und was schlagen Sie vor?"

"Ich habe dir bereits genug geholfen. Wie sagt ihr Menschen noch gleich: Geh, das Glück sei mit dir. Du wirst es brauchen."

Spirited. Always.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt