Teures Versprechen

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Chihiro wusste nicht, was sie sich augenblicklich mehr wünschte: dass Haku weiterhin den Mund hielt, weil sie dadurch am ehesten zur Ruhe kam, oder dass er es eben nicht tat. Es war seltsam, seine Stimme plötzlich gar nicht mehr in ihrem Kopf zu hören. Er verhielt sich ungewöhnlich still. Könnte sie nicht sehen, dass er nur ein paar Schritte hinter ihr stand, wäre sie sich seiner Gegenwart überhaupt nicht mehr gewahr gewesen.

Sie schüttelte den Kopf über ihre Unentschlossenheit und führte sich vor Augen, was jetzt zu tun war. Sie mussten Torai finden, doch dafür mussten sie sich möglichst unauffällig inmitten eines Auflaufs dutzender Göttergestalten bewegen. Wie auch immer man "unauffällig" in ihrem Fall auslegen wollte, konnte Chihiro mit dem, was sie im Moment optisch hergab, unmöglich dort aufschlagen.

Das Foyer bot kaum Spielraum für die simple Hoffnung auf ein Badezimmer, in dem sie sich hätte frischmachen können. In die Wände links und rechts von ihr war jeweils ein deckenhoher Bogen eingelassen. Sie fungierten als Durchgänge in lange, nicht zu überblickende Korridore, die den imposanten Einrichtungsstil des Foyers aufgriffen. Chihiro entdeckte keine Türen oder ähnliches, und sie machte sich auch keine Illusionen. Vermutlich waren Gottheiten nicht einmal auf sanitäre Einrichtungen angewiesen.

Wozu die Umstände?, sprach jener verführerische, leichtherzige Teil zur ihr, der unabdingbar in ihr fußgefasst hatte - der Teil, aus dem noch immer die Droge sprach. Chihiro konnte nur mutmaßen, dass deren Wirkung dank ihres Rückwärtsessens so stark nachgelassen hatte, dass sie sich wieder so weit im Griff hatte und diese unbeschreibliche Euphorie ihr nicht länger die Sinne vernebelte.

"Ich ziehe mich jetzt aus", teilte sie Haku ungeschönt mit - zu ihrer eigenen Überraschung. Sie hielt sich gerade noch davon ab so etwas Kindisches wie "Wehe, wenn du guckst!" hinzuzufügen. Die Situation war bei weitem schon unangenehm genug - wobei der Gedanke, dass sie sich gleich vor ihm umziehen würde, ihr gar nicht mal so sehr zusetzte - und die Tatsache, dass er wirklich absolut kein Wort sagte, machte das Ganze irgendwie schlimmer.

Chihiro öffnete den Karton. Zunächst erblickte sie nur einen dunkelgrünen Stoff, dessen leicht durchsichtiges Gewebe stark an Chiffon erinnerte und wunderbar seidig weich war. Als sie das Kleidungsstück herausnahm erkannte sie, dass zwei gleichfarbige Stoffschichten übereinander lagen. Fließende Seide und darüber Gaze, die in Form eines bodenlangen Abendkleides miteinander harmonierten.

Oh je, dachte Chihiro, der erneut ganz flau im Magen wurde, was diesmal aber nicht auf schiere Übelkeit zurückzuführen war. Es war Enttäuschung, gepaart mit Unsicherheit. Enttäuschung darüber, dass sie kein Kleid anziehen und sich darin wohlfühlen konnte. Unsicherheit, da sie einfach keine eindrucksvolle Figur besaß; nicht besonders groß (abgebrochener Gartenzwerg, wie ihre früheren Mitschüler sie mit ihren knappen 1,60m manchmal aufgezogen hatten), oben herum flach wie ein Brett und eine Taille, die man bestenfalls nur erahnen konnte.

Tja, ist ja nicht so, als hätte ich eine Wahl, meinte sie zu sich selbst und schob ihre Eitelkeit entschieden beiseite. Nach einem letzten Kontrollblick auf Haku, der sich nicht von der Stelle gerührt hatte, zog sie sich in eine der Raumecken zurück und stierte die Wand an, während sie sich in Rekordzeit auszog und rasch in das Kleid schlüpfte. Sie quälte sich mit dem Reißverschluss am Rücken und verspürte das Bedürfnis, den Stoff glatt zu streichen, nur glitt er geschmeidig an ihr herab wie fließendes Wasser. Das aufliegende Gaze im Licht der Wandleuchter glitzerte silbern, sobald Chihiro sich bewegte. Das Kleid wurde von feinen, aus kleinen, elfenbeinfarbenen Perlen bestehenden Trägern gehalten, und dort, wo sich bei üppiger ausgestatteten Frauen ein Ausschnitt gut gemacht hätte, besaß es einen eleganten, wasserfallartigen Rüschenbesatz, der Chihiro's flache Brust kaschierte.

Spirited. Always.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt