Der Wind und das Meer

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Ganz langsam bewegte sie sich auf ihn zu, versuchte ruhig zu atmen um ihn nicht spüren zu lassen, dass die Aufregung ihr durch Mark und Bein ging. Jeder andere Mensch hätte wohl gemäß seiner Natur zwei Möglichkeiten in Betracht gezogen: sich unter keinen Umständen von der Stelle rühren und hoffen, dass das Wesen das Interesse verlor, oder dem instinktiven Fluchtreflex nachgeben und die Beine in die Hand nehmen. Chihiro aber verspürte eher den gegenteiligen Drang. Sie wollte Gewissheit. Es verlangte sie so sehr danach zu wissen, ob ihre Gedanken einer bloßen Einbildung entsprangen oder ob etwas Wahres an ihnen haftete. Gedanken, die um einen Vertrauten kreisten, den mehr Geheimnisse umgaben als jede Sagengeschichte. Er, der sich hinein in ihre Träume und sogar in ihren Kopf schlich.

Ich kenne dich, dachte sie bei sich und suchte den Blick des Drachens. Sie wusste, dass sich hinter dem toten Weis etwas gänzlich anderes verbarg und dass es tief in ihrer Erinnerung eine Wärme in ihrem Inneren auszulösen vermochte, die ihr Herz selbst im entferntesten Winkel erreichte. Chihiro wollte so sehr an diesem Schemen festhalten, der sich ihr nicht völlig offenbaren wollte. Sie klammerte sich an das Gefühl der Vertrautheit, bis sie nicht mehr dazu imstande war zu unterscheiden, was Realität war und was sich nur in ihrem Kopf abspielte. Denn ein satter, unglaublicher Duft stieg ihr in die Nase, der eine Woge der Ruhe in ihr lostrat. Sie entspannte sich, als die schweren Geruchsnoten ihre Sinne einnahmen und das Meer Einzug erhielt in diese bergige Umgebung, wo der Wind ihr das Haar zu zerzausen begann. 

Ich kenne dich, wiederholte sie entschlossen und trat noch näher an den Drachen heran, der regungslos an Ort und Stelle verharrte. Er zuckte nicht einmal mit der Wimper, stand da wie eine aus weißem und schwarzem Marmor geschlagene Statue.  Weniger als drei Schritte trennte die beiden voneinander, und in einem plötzlichen Anflug von Hoffnung zögerte Chihiro nicht, bis sie unmittelbar vor ihm stand und ihm direkt in die von langen schwarzen Wimpern eingerahmten Augen schauen konnte.

"Ich kenne dich", sprach in sanftem Ton und wagte es, die Hand langsam zu heben und ihre Finger auszustrecken. "Und du weißt das." Der Drache rührte sich noch immer nicht, nur seine langen Fühler zuckten. Es machte sie fertig, dass seine Reaktion ausblieb, denn ihre Unsicherheit stieg von Sekunde zu Sekunde. Nicht, dass sie sich womöglich doch täuschte... Ihre Hand lag auf Höhe seines länglichen Mauls, war versucht, auch noch die letzten Zentimeter zu überwinden. Doch ein Zittern durchlief sie, hervorgerufen durch die aufkeimenden Zweifel. Dem Drachen entging nichts. Chihiro rang darum das Zittern zu unterbinden, im selben Atemzug aber fletschte der Drache die strahlenden, scharfen Zähne und er verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. Ein grollendes Knurren entwich dabei seiner Kehle.

Bitte, flehte sie nun stumm und verharrte genau so, wie sie stand. Ihre Hand war nach wie vor ausgestreckt und das Zittern schwächte ab. Auch er  schien sich ein wenig zu beruhigen, jedenfalls wurde er ganz still, sodass sie ihren Mut zusammennehmen und ihn wieder ansehen konnte. Erst jetzt fiel Chihiro auf, dass sie den Atem anhielt. Und dann sah sie es: ein Flackern. Es war so flüchtig, dass sie zunächst glaubte, es sei nur Einbildung gewesen, doch sie besann sich eines Besseren, als ihr Herz einen kleinen Satz machte. Das leblose Weis in den Augen ihres Gegenübers... Kurz hatte etwas darin aufgeblitzt.

Smaragde, dachte sie und zog die Brauen nachdenklich zusammen, als ein Gefühl durch ihre Glieder fuhr, das ihre Furcht mit einem Schlag vertrieb. Sie traute sich nicht zu blinzeln, wandte keine Sekunde lang den Blick von ihm, als ein schillerndes, dunkles Grün in diesen Augen zum Leben erwachte. Es war, als würde sich ein alles verhüllender Nebel endlich lichten, als würde die Seele des Drachens in seinen Körper zurückfinden. Chihiro starrte wie gebannt darauf, konnte sich nicht losreißen von dem Anblick, der ihr die Atemluft nahm. Erst, als ihr Körper sie dazu zwang, schnappte sie nach Luft und durchbrach damit die Spannung, mit der sie diese Verwandlung beobachtet hatte, und eine unerklärliche Erleichterung überkam sie. Ja, um nicht sogar Freude zu sagen.

"Jetzt erkenne ich dich immerhin wieder", sagte sie flüsternd und kam nicht umhin, dass sich ein Lächeln auf ihren Lippen ausbreitete, als diese großen lebhaften Augen sie bedacht musterten. Es lag keine Feindseligkeit darin, keine Spur von Misstrauen, nichts beängstigend Animalisches. Ganz im Gegenteil. Es war, als sprühten diese Augen geradezu vor Lebenskraft und einer solchen Innigkeit, als würden sie ihr bis in die Seele blicken. "Du bist es doch, ich wusste es!", freute sie sich und zog die Hand langsam zurück, als ihr etwas klar wurde und sie noch im selben Moment traurig stimmte. "Du...", begann sie und suchte nach den richtigen Worten, aber erfolglos. Sie wusste, es brannte ihr auf dem Herzen, und trotzdem schien die Antwort, nach der sie suchte, mit all ihren Sinnen nicht greifbar zu sein. "Oh", stöhnte sie, als ein stechender Schmerz sich in ihrem Hinterkopf zu regen begann. "Ich kapiere es nicht. Ich... Ich kann mich nicht... ich weiß es! Nun ja, ich... ich wusste es", stammelte sie unbeholfen und frustriert und presste sich die Hände flach an die Schläfen, als könnte sie so das grausame Pochen dahinter beenden. Es half nicht und sie ging in die Knie, überlegte hin und her und versuchte diese verdammte Tür einzutreten, die sich in ihrem Kopf manifestierte und hinter der die Antworten lagen, nach denen sie so verzweifelt suchte. Es machte ihr so zu schaffen, dass sie die Tränen erst bemerkte, als sie ihre Lippen erreichten und ein salziger Geschmack sie ins Hier und Jetzt zurückrief. Sie blickte zu dem Drachen hinauf, der seinen Hals gereckt und sich ganz nah zu ihr vorgebeugt hatte, sodass sie sich wieder auf einer Augenhöhe befanden und er sie unverwandt anschauen konnte. Sie war wie gebannt und vergaß fast ihren Frust, so gefesselt war sie. Mit seinem warmen Atem auf ihrer Haut regte sich in ihr eine Wärme, die ihr das schwere Herz sogleich leichter werden ließ. Zu gern hätte sie einfach die Hand nach diesem Wesen ausgestreckt, wäre durch sein Fell gestrichen und seine Kieferpartie mit den Fingern nachgefahren. Doch bevor sie dazu kam, reckte er den Kopf vor und berührte ihre Stirn sacht mit der seinen, sodass Chihiro es nicht über sich brachte, sich zu rühren. Sie hockte da wie gelähmt, war zu überrascht von dieser tröstlichen Geste, die ihre Kopfschmerzen von Zauberhand verschwinden ließ. Und sie fühlte ganz deutlich, wie ihr das Herz vor Freude bis zum Hals schlug.

Sie wusste nicht, wie lange sie sich so gegenüberstanden, ehe sich ihre Gedanken neu ordneten und ihr eine Sache mit einem Mal bewusst wurde. Ohne den Kontakt mit seiner Stirn zu unterbrechen, sprach sie sie aus: "Du bist meinetwegen dort gewesen". In ihrem Kopf setzten sich die einzelnen Informationen zusammen, die sie erfahren hatte und es wurde ziemlich eindeutig. Der Drache, der ganz plötzlich durch das Dach der Großen Halle des Klosters preschte, dessen Leib immer wieder gegen die Mauern schlug - um ins Innere des Gebäudes zu gelangen, wie sie nun erkannte -, der, sobald er seine Chancenlosigkeit erkannt hatte, sich in den Himmel zurückzog und wartete, dass sich ein bestimmter Jemand ihm zeigte. Und seine Reaktion, als Chihiro ihm aus einem unerklärlichen Impuls heraus nach draußen gefolgt war. Dennoch, sie sah den Sinn darin nicht, obwohl sie spürte, dass es die Wahrheit war. Sie wusste es einfach.

Sie wünschte, er würde ihr die Antworten geben. Wünschte, er würde einfach mit ihr sprechen, wie er es zuvor schon etliche Male getan hatte. "Bitte", flüsterte sie eindringlich mit erstickter Stimme, als sie die Stille kaum noch ertragen konnte. "Bitte, sag etwas!"

Und dann plötzlich, nur ganz schwach und kaum mehr als ein Wispern aus weiter Ferne, hörte sie ihn in ihrem Geist.

Weine nicht, Chihiro. Es wird alles gut.

Der Kloß in ihrem Hals löste sich, als sie erleichtert auflachte. 

Spirited. Always.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt