Von Göttern und Menschen (3)

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Chihiro löste sich aus Haku's Erinnerung. Es war, als würden die Fragen, die sich in ihrem Kopf stellten, sie aus all dem hinauskatapultieren. Und so fand sie sich schweratmend wieder in Zeniba's Hütte, zurück in ihrem eigenen Kopf und nicht länger benebelt von den Gedanken eines anderen. Haku's Hand ruhte nun auf ihrer Schulter, als wollte er sie stützen - sowohl mental als auch körperlich. Sie spürte, wie sein Geist sich behütend nach dem ihren ausstreckte.

Keine Angst, es geht gleich vorüber, sprach er zu ihr, ohne dass seine Lippen sich bewegten.

Chihiro kämpfte gegen den Schwindel an, als es sich immer schneller in ihrem Kopf zu drehen begann. Sie schloss die Augen und nahm ein paar tiefe Atemzüge. Haku reichte ihr einen eigenartigen, steinernen Becher, der mit Wasser gefüllt war, und tatsächlich verging das Gefühl, als hätte ihr Hirn sich in ein Karussell verwandelt, ziemlich rasch, sodass sie kurz darauf wieder klar denken konnte. "Der Vertrag", nahm sie den Faden wieder auf. "Du sagtest  damals, dass Yubaba Menschen in Tiere verwandelt, wenn sie nicht für sie arbeiten."

"Ja, aber das ist nur ein winziger Aspekt des Ganzen. Yubaba ist eine von wenigen, die eine derartige Herrschaftsstellung beziehen. Ihre Macht steht außer Frage, aber sie ist nicht die höchste Macht, die diesseits existent ist."

"Das bedeutet, sie ist nur so etwas wie... eine Angestellte?", hakte Chihiro nach.

"So könnte man es sehen."

"Und das Badehaus ist sozusagen ihr Herrschaftsgebiet?"

Haku nickte. "Es erstreckt sich ein wenig weiter als nur über dem Badehaus, aber du hast recht. Diese Welt ist viel größer, als du angenommen hast, aber das hast du selbst schon gemerkt."

Chihiro dachte an das Kloster, in dem sie einige Tage verbracht hatte. Auch Hora bekleidete also eine Position wie Yubaba, und ähnlich wie sie herrschte er über ein bestimmtes Territorium. Sie sind wie Verwalter.

"Diese Welt, ist eine Welt der Götter", stellte Haku klar. "Gottheiten nähren sich von den wandernden Seelen, die mit dem Passieren der Schwelle - der Portale - einen Teil ihrer Essenz auflösen."

Verwirrt blickte sie den jungen Mann an, der die Hand sinken ließ und so weit von ihr abrückte, dass er sie von Kopf bis Fuß mustern konnte. "Essenz?", fragte sie ihn unsicher, als ein Frösteln durch ihren Körper lief.

Haku senkte die Augenlider. "Ein jedes Lebewesen hat eine völlig eigene Essenz. Sie ist nicht auf materieller Ebene vorhanden; man kann sie weder sehen, noch anfassen, denn sie entspringt in einem selbst. Sie bindet die Seele an den Körper und verankert beides ineinander. Wenn man ein Portal durchschreitet, wird diese Bindung enorm geschwächt. Es ist, als würden die Fäden eines Gewebes ausgedünnt, bis es kurz vor dem zerreißen ist."

Es macht die Seele angreifbar, erfasste Chihiro Haku's Ausführung.

"Götter, die hier verweilen, mehren ihre Macht indem sie sich so Zugang zur Seele verschaffen und sie spalten, um diese Energie - diese Macht - der ihren anzutragen. "

Chihiro fing an zu begreifen, was das bedeutete. Nie hätte sie erwartet, dass etwas derartiges hinter dem stecken würde, was ihr widerfahren war. Was hatte sie sich auch vorgestellt? Dass sie schicksalshaft an einen magischen Ort gelangt war, um... Um was genau zu tun? Dieser Ort hatte für sie nie etwas allzu Positives bereitgehalten - weder damals, noch heute. Die Herausforderungen, denen sie sich gezwungener Maßen hatte stellen müssen, waren keine der angenehmen Art. Das Überleben war ein Kampf gewesen, den sie nicht nur für sich, sondern vor allem für ihre Eltern geführt hatte. Ihr war nichts geschenkt worden. Nicht einmal die Erinnerungen hatte man ihr gelassen. Sie war hineingestolpert, hatte nach dem tieferen Sinn und Zweck des Ganzen gesucht, um jetzt die Erkenntnis zu erlangen, dass man sie nur benutzte. Sie war nur eine jener wandernden, angreifbaren Seelen, welche die Machtquelle für göttliche Wesen speisten.

Chihiro fühlte, wie Haku's Geist sie mit tröstender Wärme flutete. Gern hatte sie sich davon einhüllen lassen, doch sie war zu aufgewühlt, um darauf einzugehen. "Du bist ein Gott", hörte sie sich wie aus weiter Entfernung sagen und spürte, wie sich plötzlich sein Geist entfernte. Haku schwieg, seine Worte und seine Gedanken waren ihr verschlossen. Er hatte eine Mauer errichtet, die Chihiro nicht überwinden konnte, um in sein Inneres zu sehen, was sie sich in diesem Augenblick mehr denn je wünschte.

Er hatte sich nicht von ihr genährt.

Nicht von ihrer Seele...

Doch selbst ihr sehnsüchtiger Blick, der um Haku's Bestätigung flehte, vermochte diese Mauer nicht einzureißen. "Haku...", drängte sie, fast nur flüsternd.

"Ich habe meine Macht immer aus eigenen Kräften aufrechterhalten", setzte er an, ein Unterton schwang in seiner Stimme mit, den Chihiro nicht recht zu deuten wusste. "Ich bin noch nicht so alt, als dass ich darauf angewiesen wäre, und ich hoffe, dass das noch lange so bleibt."

"Oh", brachte sie nur hervor und begriff plötzlich. "Es tut mir leid! Ich wollte dir nichts unterstellen -"

"Das hast du schon", widersprach er, und nun wusste Chihiro, was der Unterton zu bedeuten hatte. Sie hatte ihn tatsächlich gekränkt.

"Haku, ich wollte doch nicht -"

Er hob die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen, und schüttelte den Kopf. "Schon gut. Vergiss es einfach."

Und dann erhob er sich, ging zur Tür und ließ Chihiro allein in der Hütte zurück.

Sie haderte mit sich, ob sie ihn gehen lassen sollte. Sicher, er war wütend, dass sie ihm gerade Seelenraub vorgeworfen hatte, und wollte seinen Freiraum. Aber sie konnte ihn nicht wieder ziehen lassen, bis er sich eines besseren besann und wieder zurückkehrte. Dafür hatten sie keine Zeit. Und es war noch längst nicht alles gesagt worden, was zu sagen war.

So lief sie ihm nach, kaum dass er aus der Tür getreten war.



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