Vom gemachten Mann und der weiblichen Neugier

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Zeniba nahm den Kessel von der Feuerstelle und goss die aufgewärmte Kräuterbrühe in eine Schüssel. Chihiro nahm ein Tuch, tauchte es hinein, wrang es aus und stand unschlüssig an Zeniba's Himmelbett, auf das sie Haku gelegt hatten.

"Mehr wird er nicht brauchen, um seine Kraft zu regenerieren. Reibe ihn nur damit ein. Am besten in Herzgegend! Ruhe ist die beste Medizin, und eine sanfte Hand, die sich um ihn kümmert. Du schaffst das allein."

"Wohin gehst du?", fragte Chihiro.

"Du sagst, sie waren in der Nähe. Wir wollen ja nicht, dass sie euch bei mir finden. Ich werde mich in der Gegend umsehen und gleich meine Schutzzauber überprüfen. In ein paar Stunden bin ich zurück." Sie hüllte sich in einen dunkelblauen Regenmantel mit Kapuze, der sich kaum von der Farbe des Nachthimmels abhob, und öffnete die Tür. Leise brabbelte sie, Chihiro verstand nur den letzten Teil: ".. die Zeit sollte er jetzt endlich nutzen". Zeniba trat hinaus in den Regen, der inzwischen eingesetzt hatte, und hob vom Boden ab in die Lüfte. Wie ein Vogel sag sie aus; wohl eine Erscheinung, die der Mantel ihr in Kombination mit etwas Hokuspokus verlieh. Tja, es konnte sich eben nicht jeder die wahre Gestalt eines Tieres aneignen, wie Saya ihr erklärt hatte.

Chihiro blieb mit Haku allein zurück. Er sah tatsächlich aus, als würde er schlafen. Keine milchige Blässe, keine schwitzende Stirn, kein unruhiger Atem. Er war wohl wirklich nur sehr erschöpft und schlief tief und fest. "Zum Glück", fügte sie ihrem Gedanken hinzu und fingerte an dem getränkten Tuch, faltete es und drehte es, um das Kommende hinauszuzögern. Sie war sich ihrer brennenden Wangen nur allzu bewusst.

Herzgegend, spukte es ihr im Kopf herum. Chihiro wusste ja, dass sie dazu sein Hemd ausziehen musste, und dass er in seinem Zustand nichts davon bemerken würde. Machte es die Sache leichter?

Nein.

Vielleicht wollte er nicht entblößt werden. Chihiro jedenfalls - wäre die Situation umgekehrt - hätte sich mit Pauken und Trompeten dagegen gewährt, dass sie jemand ohne zu fragen auszog. Andererseits, ein Arzt oder eine Krankschwester würden auch einfach handeln, und man nahm es ihnen nicht übel. Es diente ja einem Zweck, richtig?

Chihiro verfluchte sich für ihre Zimperlichkeit, ihr dämlich menschlich mädchenhaftes Schamgefühl. Konnte sie nicht einfach professionell sein?!

Sie atmete tief durch und schüttelte den Kopf - ha, als könnte sie ihre Bedenken so loswerden! "Weiß du", sagte sie, um sich abzulenken, "du hast mir da draußen eine Heidenangst eingejagt". Sie legte das Tuch zur Seite und tastete nach dem Knoten des Gürtels, der sein Hemd zusammenhielt. "Ich... ich dachte wirklich, du würdest mich gleich auffressen oder so" Sie sagte es mit einem Lacher, obwohl ihr nicht nach Lachen zumute war. 

Himmel, ich sollte das verdammte Licht ausmachen, dachte sie sich. Dann kann er mein knallrotes Gesicht nicht sehen. Aber Chihiro blieb, wo sie war. Würde sie sich jetzt wirklich bewegen, um die Lampe zu löschen, wäre es gut möglich, dass sie schnurstracks zur Tür und in den Regen hinausmarschierte, um sich kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen!

"Ich habe dich ganz anders in Erinnerung", murmelte sie vor sich hin und legte den Gürtel beiseite, ehe sie nach dem Hemd griff, um seine Brust freizulegen. "Damals hast du mich nur verunsichert, als du plötzlich so kühl mir gegenüber wurdest. Natürlich bevor ich wusste, weshalb. Da habe ich gemerkt, dass es nicht echt war. Ich brauchte mich nie vor dir zu fürchten, weder vor dir als Mensch, noch vor dir als Drache." Sie ignorierte die Hitze in ihrem Gesicht, das Zittern ihrer Finger, als Haku's helle, glatte Haut zum Vorschein kam. Sie versuchte, nicht zu genau hinzusehen und nahm das Tuch zur Hand. "Ich hatte Angst, als du mich vom Kloster fortgebracht hast. Ich war mir deiner einfach nicht sicher, bis Zeniba mir mit dem Tee die Augen geöffnet hat." Chihiro betupfte sanft seine Brust, strich über die Stelle, wo sein Herz lag, und achtete darauf, dass nur der Stoff auf seine Haut traf und nicht ihre Finger. Sie war so konzentriert, dass sie ihn genauer anschaute. Und sie konnte nicht aufhören zu schauen, als sie erst damit begonnen hatte: die helle Oberfläche, unter der sich Knochen und Muskeln verbargen, die das bloße Auge nicht erfasste. Haku war nicht besonders trainiert, aber doch kraftvoll und stark; stärker noch, als man vermuten würde. Haut spannte sich weich wie Seide über die leichte Wölbung, die von der Brustmuskulatur herrührte. Sie folgte der Wölbung mit den Augen, betrachtete die angedeutete Furche entlang des Brustbeins, welche das Sternum bildete. Darunter verlief eine feine Linie - Linea Alba, wie sie sich aus dem Biologieunterricht zu erinnern glaubte. Eine hauchzarte Linie, die besonders bei trainierten Menschen hervorstach, da sie die Bauchmuskulatur definierte - die Mittellinie, die genau durch das Sixpack eines Sportlers lief. Haku besaß sie also auch. War er vielleicht doch trainierter, als es den Anschein hatte?

Chihiro's Finger fuhren am Hemd entlang, strichen eigentlich nur leicht darüber - genau diese Linie entlang. Natürlich spürte sie nichts, die Berührung war zu sanft...

Als hätte sie sich die Finger verbrannt, riss sie die Hand zurück. Ihr Gesicht war glühend heiß und musste sich zusammenreißen, nicht laut zu fluchen.

Nur... weibliche Neugier, entschuldigte sie sich in Gedanken, eindeutig mehr um sich selbst zu beruhigen. Sie wollte nicht nochmals einen Blick riskieren und eilte sich, sein Hemd zu schließen. Bis sie feststellte, dass es ohne Gürtel kaum zusammenhielt. Ihm diesen wieder anzulegen, wäre definitiv nicht ratsam gewesen. Wie sollte sie das auch anstellen, ohne ihn womöglich wachzumachen. 

Sie seufzte und schlug das Hemd zu, so gut es ging. Statt weiter seinen Körper zu... beglotz...-bestaunen (!), riskierte sie erstmals einen Blick auf sein Gesicht. Als Saya bei ihr war, hatte sie die Gelegenheit verpasst. Im Grunde war es ja sein Gesicht, welches sie sich nie hatte wirklich vorstellen können, bis auf die herrlich grünen Edelsteine, denen seine Augen glichen. Eine Stimme in ihrem Kopf, mehr war sie sich von Haku nicht bewusst gewesen. Und auch seine Statur - wie sie jetzt war - war eine andere als in ihrer Erinnerung. Verständlich, denn damals waren sie praktisch Kinder gewesen. Was vier Jahre aus einem Menschen machten, war schon erstaunlich...

Sein Gesicht rüttelte etwas in ihr auf, was sie verloren geglaubt hatte. Denn da war er wieder: der herzliche Junge mit dem wachen Gesichtsausdruck, der ihr die Trübseligkeit genommen hatte. Trotzdem er schlief und sein Gesicht keine Regung zeigte, genügte Chihiro der Blick auf die leichte Rundung seiner schmalen Brauen, den zarten Schatten der Augenlider, der gerade Nasenrücken. Seine Wangenknochen stachen nicht wie Dolche hervor, wie man es von Models aus irgendwelchen Zeitschriften oder einem Fernsehspot kannte, sondern viel filigraner und zurückhaltender, aber dennoch ausgeprägt und schneidend genug, um seinem Gesicht eine einzigartige Form zu verleihen. Auch der Schwung seines Mundes nahm den recht schmalen Lippen die Strenge und Ernsthaftigkeit. Wie er wohl aussah, wenn er lächelte? Der Anblick musste traumhaft sein. Chihiro begann selbst zu lächeln, als sie es sich vorzustellen versuchte. Sie bekam sogar eine Gänsehaut. Selbst sein Kinn passte perfekt zu ihm - der breite, kantige Kiefer lief spitz zu, mündete in dem sanften Bogen seiner Kinnpartie. Ihr Blick wanderte etwas tiefer, glitt seinen Hals entlang, der nicht besonders sehnig war und wo nicht die harten Stränge hervorstachen, wie es bei ihrem Vater früher der Fall gewesen war. Sein Hals war geradezu einladend, um mit den Fingerspitzen darüberzustreichen, um einen Bogen zu schlagen über den spitzen Hügel, wo sich sein Kehlkopf befand, hinab bis zur Kehlgrube, wo die Schlüsselbeine zusammenliefen.

"Wow", flüsterte sie, mehr zu sich selbst, und betrachtete nochmals sein vom Schlaf entspanntes Gesicht, "so sahst du früher wirklich nicht aus." Sie grinste in sich hinein. "Ich verstehe jetzt was Saya meinte, als sie von echt hübsch gesprochen hat. Aber", fügte sie hinzu, "sie hat ganz schön untertrieben. Ich glaube, ich habe noch nie jemanden gesehen, der so schön ist."

Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so schön ist.

Chihiro erstarrte.

Sie überlegte hin und her, ob sie gerade wirklich gehört hatte, was sie gehört hatte, und versuchte sich zu vergewissern, dass Haku schlief. Sie sah, wie ruhig seine Augen unter den Lidern lagen. Kein Zucken. Kein Anzeichen irgendeiner Regung. Er lag ganz still da. Sie hob sogar die Hand und wedelte damit vor seinem Gesicht herum, doch nichts geschah.

Sie schluckte und trat langsam - im Rückwärtsgang - vom Bett zurück.

Er schläft, sagte sie sich. Ja, Chihiro. Ganz ruhig. Er schläft, aber so was von!






Spirited. Always.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt