Spirited. Always.

Frei

Es war ein unbeschreibliches Gefühl. Er hatte nie geglaubt, je zu etwas derartigem fähig zu sein. Dass eine menschliche Seele diese unglaubliche Kraft verlieh, löste ein Gefühl der Ehrfurcht in ihm aus. Er wusste was es bedeutete, Meer zu sein, Wind zu sein. Es war die größte Freiheit, die er kannte und die mit nichts in der Welt zu vergleichen war. Stets empfand er einen tiefen inneren Frieden, losgelöst von seinem Selbst und frei von jedem Gedanken.
Dies musste nun die Kehrseite der Medaille sein. Er fühlte die Kraft völlig ungezügelt, war ohnmächtig gefangen im Sturm aus Energie und kaltem Überlebenswillen. Seine Gedanken kreisten, ließen jene innere Ruhe gänzlich vermissen. Das Chaos in seinem Geist ließ nicht nach, erweckte Gedanken zum Leben, die er bislang kaum zugelassen hatte.
Was wird aus mir, wenn ich diesen Kampf verliere?
Wie soll ich zu dem werden, der ich war?
Wenn ich kein Gott bin, was bin ich dann?
Was wird geschehen, wenn ich überlebe?
Chihiro. Wie kann ich sie beschützen, ohne sie zu verlieren?
Was, wenn es schon geschehen ist?
Chihiro. Wo bist du?
Sprich mit mir!
Ihre Stimme aber blieb verstummt. Sie antwortete nicht, doch er konnte sie fühlen, spürte ihre Kraft, die ihn wie ein Fieber ergriffen hatte.
Haku sammelte seinen Geist. Dieser Daseinszustand, der wahrhaftige Geist des Wassers, bedeutete Zerstreuung und Wildheit. Mit der Verwandlung vom menschlichen Körper zum  brausenden Meer verlor auch seine Seele das Gefäß, breitete sich aus und kannte weder Ende noch Anfang.
Haku wusste, sich danach wiederzufinden, sich wieder zu seinem Körper zu bewegen, war schwer. Es war, als wollte man eine Wolke in ein Teeglas füllen.
Es erforderte ungemeine Selbstdisziplin und einen starken Willen. Etwas, was Haku sich schon vor etlichen Jahren selbst gelehrt hatte.
Quälend langsam folgte sein Körper dem Befehl: Als Erstes spürte er seine starken Beine, die auf einer Wiese halt fanden. Dann seine Brust, in dem sein Herz vor Erregung so heftig trommelte, als wollte es herausspringen. Der Wind fuhr in einer sanften Liebkosung über die sich langsam aus dem Wasser formenden Schuppen, als würde er ein Lied der Freude singen. Das letzte Licht des Tages stach rotorange in Haku's Gesicht, als er ihm entgegenblinzelte.
Es dauerte, bis sein Leib sich vollständig verfestigt hatte, und als es so weit war, konnte er endlich wieder atmen. Richtige Luft, schwer und salzig, leicht metallisch, füllte seine Lungen.

Ich bin frei.

Wie ein Gebet ließ er diesen Gedanken zu, nach all den Jahren, in denen er kaum zu hoffen gewagt hatte.
Der Dämon war fort. Haku war sich nicht sicher gewesen, ob es wirklich funktionieren würde, aber ihm war nichts Besseres eingefallen. Der Dämon war stark gewesen - zu stark, um ihn mit bloßer Körperkraft besiegen zu können. Es war ein Geistesblitz gewesen, ein Tatsache, die Chihiro ihm erst wieder bewusst gemacht hatte: Der Dämon mochte seinen Körper beherrschen, aber es machte ihn nicht zu einem Gott. Er mochte den Himmel verdunkeln, ein Gewitter heraufbeschwören können, aber die Fähigkeit, die Gestalt zu verändern, hatte er nicht stehlen können.
Das zu beweisen, war riskant gewesen, aber auch die einzige Chance. Die Beste, wie sich gezeigt hatte. Dank Chihiro hatte Haku wieder die Kraft dazu gehabt.

Frei.

Er erlaubte sich, mit jedem Atemzug, den Gedanken aufzusaugen. Er grub seine Klauen in den Boden, fühlte das Gras, die kalte, nasse Erde. Seine Muskeln zitterten vor Anspannung, als er sie testete. Haku bemerkte die Veränderung. Er fühlte sie eher, als dass er sie sah. Chihiro's Kraft erfüllte ihn von der Stirn bis in seine Krallen, reine Vibration, von der er nicht wusste, wie lange sie anhalten würde. Diese Kraft war unglaublich, beinahe, als könnte sein Körper sie kaum halten.

Du bist so unfassbar stark, flüsterte er in sich hinein, in der Hoffnung, dass sie ihn zu hören vermochte.

Chihiro? Bitte. Sag etwas.

Er horchte in sich hinein, blendete den Klang des sanften Windes aus, der durch das hohe Gras und die fernen Baumkronen wehte.

Schrei mich an.