Zu ihrer Überraschung stand Haku nur ein paar Meter abseits des Hauses. Die Hände hatte er zu Fäusten geballt, seine Schultern bibberten vor Anspannung und den Blick hielt er starr auf den vor ihnen liegenden Wald gerichtet. Die Regenwolken hatten sich verzogen, sodass der Himmel aufklarte und die späte Mittagssonne ungehindert ihr warmes Licht auf das Blattwerk werfen konnte, das in ihrem Schein fast golden schimmerte.
Chihiro trat bedachtsam an Haku heran, zögerte, ob sie Abstand halten oder ihm nahe kommen, ihm die Hand auf den Arm legen sollte, um ihn aus seiner gedankenversunkenen Starre zu erwecken. Haku aber spürte ihre Nähe bereits. Er drehte den Kopf ein Stück weit in Chihiro's Richtung und entspannte sich sichtlich, als sie neben ihn trat. Über seine Augen huschte ein Schatten, glaubte Chihiro zu erkennen, doch bei bestem Willen wusste sie die Bedeutung dessen nicht zuzuordnen. "Es tut mir leid", wiederholte sie demütig und beobachtete aus dem Augenwinkel, wie seine Kiefer miteinander mahlten. Betreten schwieg sie und schaute hinaus auf den Horizont, der sich blau über den Baumwipfeln erstreckte.
"Ich sollte um Verzeihung bitten", sagte er, was Chihiro dazu brachte, ihn anzusehen. Sie war sich nicht sicher, ihn richtig verstanden zu haben, und blinzelte verblüfft. Haku ließ sich nicht beirren. Still verharrte er, nur seine Lippen bewegten sich, während er sich erklärte: "Ich war nicht ganz ehrlich zu dir."
Hellhörig wandte Chihiro sich ihm zu und schlang die Arme um den Leib, ermahnte sich, ihn sprechen zu lassen bevor sie wieder voreilige Schlüsse zog."Als wir uns damals, als du gerade erst in dieser Welt angekommen warst und wir uns auf der Bücke begegneten. Ich dich hatte dich gedrängt, zu verschwinden. Ich ahnte, dass du es nicht rechtzeitig zum Portal schaffen würdest und bin dir nachgelaufen. Du warst schon dabei dich aufzulösen, als ich dich fand."
"Ja. Ich hatte furchtbare Angst, dass ich einfach verschwinden könnte."
"Und das wärst du auch. Ich habe gefühlt, wie deine Essenz immer durchlässiger wurde, konnte sie regelrecht flimmern sehen, als du dort am Wasser gesessen und geweint hast. In diesem Moment habe ich sie berührt. Es war kein Versuch, sie dir zu stehlen. Ich... Ich konnte nur nicht anders. Zuvor war ich einer Seele nie so nah gewesen, dass ich nur die Hand danach hätte ausstrecken müssen, und in diesem Augenblick habe ich mich vergessen. Und selbst jetzt erinnere ich mich genau, wie sie sich angefühlt hat."
Chihiro überwand den Schreck, der sie für den Bruchteil einer Sekunde gepackt hatte, als sie Haku's Gesicht sah. Er war in diesem Moment nicht hier bei ihr. Er war wieder an jenem Ort aus der Erinnerung, in der er ihr eine seltsame Kugel zu schlucken gegeben hatte, die sie wieder Boden unter den Füßen gewinnen ließ.
"Ich habe sie gespürt. So geladen von deiner Angst. Warm und kraftvoll vibrierend, als hielte man einen jungen Vogel in Händen. Ich hatte so etwas noch nie vorher empfunden. Auch heute staune ich darüber, wie weit ich die Versuchung unterschätzt habe, die andere Götter dazu bringt eine kleine Ewigkeit in dieser Welt zu bleiben. Und als dein Körper sich auflöste war ich dermaßen versucht, dem nachzugeben. Ich habe selten etwas so sehr gewollt, wie in diesem Augenblick."
Chihiro schluckte. "Du hast aber nicht nachgegeben", schloss sie und hob langsam den Arm, so vorsichtig, als könnte sie Haku wie ein wildes Tier verscheuchen, wenn sie sich zu hektisch bewegte. Sie kam nicht umhin zu bemerken, wie hochgewachsen Haku inzwischen war. Damals war er nicht viel größer als sie gewesen, nun aber überragte er sie um einiges. Bedachtsam legte sie die Hand an seinen Oberarm, drückte ihn sanft, sodass er sie daraufhin anschaute. Er musste tatsächlich zu ihr hinabschauen - Chihiro erreichte mit ihrer Stirn kaum seine Schulter. "Haku", setzte sie an und rückte näher zu ihm, sodass ihre Schulter ihn berührte. "Erzähl mir mehr, bitte. Was hat es mit dem Gespräch zwischen dir und Yubaba auf sich? Erzähl mir, was mit dir geschieht..."
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Spirited. Always.
FanfictionNie hätte Chihiro geglaubt, dass ihre Träume in Wahrheit Erinnerungen an eine Vergangenheit sind, in der sie sich mit alten Hexen, Verzauberungen und Gottheiten hatte herumschlagen müssen. Aber alles war real gewesen - ER war real. Obwohl Chihiro ih...