Es war nicht schwer, das Bild heraufzubeschwören. Bald eine Lebensspanne hatte Haku im Badehaus gelebt, er kannte jeden Winkel diesen Orts; jedes Zimmer, jeden Aufzug, jeden Dienstbotengang, jede Biegung in den kleinen und großen Gärten rundherum.
Barfuß hatte er sich in seinem ehemaligen Lehrlingszimmer, nicht weit von Yubabas Räumlichkeiten im obersten Stock, manifestiert. Jahre hatte er damit zugebracht Schriften zu studieren und Zauber zu wirken, die Drecksarbeit für seine Meisterin zu erledigen, zu lernen. Und all dies für die trügerische Illusion von Kontrolle.
Es erschien Haku beinahe, als wäre dies Teil eines anderen Lebens. Ein Leben, das schon lange hinter ihm lag - ähnlich wie jene schicksalshaften gelben Turnschuhe, aus denen Chihiro herausgewachsen war.
Haku verschwendete keinen Moment, indem er den Blick durchs Zimmer schweifen ließ, und trat hinaus auf den Flur, um auf den Aufzug zuzusteuern. Er legte den Hebel um und fuhr nach unten. Seine Brust wurde schwerer, als er hinaustrat und in den nächsten Aufzug umstieg, weiter nach unten. Und noch einmal.
Er griff sich an die Brust, als das anfängliche Zupfen seines Inneren stärker wurde, mittlerweile einem Ziehen glich.
Was ist das?
In der Empfangshalle blieb er stehen, als das Ziehen heftiger wurde. Es fühlte sich fast an, als drängte jemand von innen gegen seinen Torso und wollte mit Macht hindruchbrechen.
"Zu nichts zu gebrauchen", meldete sich eine ihm nur allzu bekannte Stimme zu Wort.
Haku erstarrte eine Sekunde, ehe er sich mit nichtssagender Miene zu Yubaba umwandte. Sie sah aus wie eh und je, völlig unverändert. Dutzende Ringe funkelten an den dicken Fingern, die auf dem Geländer der Galerie ruhten. Dass Haku den Kopf in den Nacken legen musste, um zu ihr aufzuschauen, hätte ihn beinahe fühlen lassen wie damals, als er noch ihr Schüler gewesen war. Aber er betrachtete sie nicht länger als Retterin, denn heute wusste er, dass sie das nie gewesen war. Nicht sie.
Ihm fiel kein plausibler Grund ein, aus dem sie sich in seine Meditation eingeschleust hatte. Sie entsprang nicht seinem Geist, denn er spürte ihre Energie, ihre Macht, wenn auch nur durch einen zarten Schleier hindruch. Mit einem simplen Zauber war es leicht sich in fremde Träume zu begeben, aber Haku hatte nicht damit gerechnet, dass es jemand versuchen würde. Abgesehen davon befand er sich nach wie vor im Zwischenreich von Opal, einem der drei noch lebenden Ältesten. Wie war Yubaba das nur gelungen?
"Was willst du?", fragte er geradeheraus.
Ihr Mund verzog sich zu einem diebischen Lächeln, ihre Finger trommelten gemächlich auf der Brüstung. "Frech. Wohin ist bloß der idiotische Feigling verschwunden, der damals an meine Tür geklopft hat?"
Haku hatte sich von ihrer herablassenden Art nie verunsichern lassen. Er hatte früh erkannt, dass es schlicht zu ihrem Charackter gehörte und sie Spaß daran fand, Leute zu reizen. Eine Eigenschaft, der er nichts abgewinnen konnte.
Haku wollte sich gerade abwenden, als sie weitersprach: "Wer hätte gedacht, dass du doch sowas wie Rückgrat besitzt?"
Haku schaute ihr direkt in die großen Augen, deren Weis das Braun der Iris fast schluckte und die in seinem Gesicht nach einer Antwort suchten. "Habe ich dich so unterschätzt? Oder hat es wirklich erst dieses nervtötende kleine Menschlein gebraucht, dass du Persönlichkeit entwickelst?"
"Du warst mir nie zugetan, Yubaba. Du hast mich beizeiten fallen lassen, daraus mache ich dir keinen Vorwurf. Dass du mich betrogen hast, steht aber auf einem anderen Blatt."
Sie grunzte und beugte sich vor. "Ja, ja, ja, ich habe dich betrogen, ohweh! Die Götter mögen mir vergeben, sobald sie sich dafür interessieren, dass ein Halbstarker wie du nicht den Grips aufgebracht hat, das zu durchschauen."
Haku wusste, dass sie diesbezüglich nicht ganz im Unrecht war. Er hatte nie eine Entschuldigung geschweige denn Wiedergutmachung von ihr erwartet, hatte nie Wut darüber empfunden, dass sie ihn dermaßen ausgenutzt hatte. Und doch fühlte er es allmählich. Die nicht länger ungewohnte, aber noch unerforschte Hitze seines aufsteigenden Zorns, die nur allzu bereit war, sich in ein Inferno zu verwandeln, falls er sich dem hingab.
"Also? Nun sag schon", forderte die Hexe weiter und lehnte sich leicht über das Geländer. "Ich dachte erst, mein Schoßhündchen würde einem neuen Frauchen hinterherrennen, auch wenn ein Mensch dafür die schlechteste Wahl überhaupt wäre. Aber so simpel ist es nicht gekommen, nicht wahr?" Sie lachte wie die herzlose Hexe, die jeder in ihr sah. Eine alte Frau, älter als es den Schein hatte und die mit mehr aufwarten konnte als mit Zaubertricks. In ihr steckte ein listenreiches Raubtier.
"Nun, wie gelingt es einem Menschen, einen Gott dermaßen zu brechen?"
Haku schloss einen Moment die Augen, als müsste er darüber nachdenken, und tatsächlich gab es viele Antworten auf diese Frage, aber nur eine, die von Bedeutung war. Nur eine, die Yubaba hören wollte, aber Haku schwieg.
Yubaba wusste es bereits, doch sie hatte die Bestätigung haben wollen. Ihr Grinsen verblasste und sie beugte sich zurück, als hätte sie das Bedürfnis, wieder mehr Abstand zwischen sich und ihrem ehemaligen Schoßhund, den sie mittlerweile mit anderen Augen sah, zu bringen. Sie faltete die Hände vor sich und sprach: "Tja, wer hätte das gedacht? Ein Rebell durch und durch, wie es scheint. Du wirst auch noch das letzte Gesetz gebrochen haben, wenn dieser Tag zu Ende geht."
"Ich werde frei sein. Leb wohl, Yubaba", erwiderte Haku und senkte einen Moment die Stirn, um ihr trotz allem seine Anerkennung zu zollen. Sie beide wussten, diese Begegnung würde auf ewig ihre letzte sein.
Yubaba rührte sich nicht. "Freiheit ist eine Sache der Menschen, Haku. Diese Fantasterei habe ich noch nie an dir leiden können." Ihre riesige Nase zuckte angewidert, dann straffte sie die Schultern. "Das herrliche Leid der Suchenden haftet dir nicht mehr an - wie langweilig", murrte sie und strich eine insichtbare Falte aus dem Rock ihres Kleides. Sie seufzte. "Ich gratuliere ich dir, Haku."
Ein kleines Schmunzeln stahl sich auf seine Lippen, als sie seinem Blick auswich.
Vielleicht mochte ein Teil von ihr mich sehr wohl, überlegte er.
"Ein letzter Rat?", fragte Haku und richtete sich auf.
Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen, ehe ihre Gestalt begann sich aufzulösen. "Von Meister zu Meister: Versau es bloß nicht."
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Spirited. Always.
FanfictionNie hätte Chihiro geglaubt, dass ihre Träume in Wahrheit Erinnerungen an eine Vergangenheit sind, in der sie sich mit alten Hexen, Verzauberungen und Gottheiten hatte herumschlagen müssen. Aber alles war real gewesen - ER war real. Obwohl Chihiro ih...