Die Geprüfte

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Gedankenverloren wickelte sich Saya eine Locke um den Finger, während sie vor dem Sitzungssaal auf und ab ging. Es machte sie kirre daran zu denken, was dort drinnen besprochen wurde und nicht für ihre Ohren gedacht sein sollte.
Nun, man war mit ihrer Leistung bei der Ingewahrsamnahme des Drachens nicht zufrieden gewesen. Teban war Saya's Zögern leider nicht entgangen und er hatte ihre Ausreden mühelos durchschaut. Wahrscheinlich war es überwiegend sein Verdienst, dass man Saya seither bei Ratssitzungen außenvorließ. Er war nicht so dumm dies auszusprechen, aber Saya sah ihm an, dass der ihr nicht vertraute.
Wer kann's ihm schon verdenken, dachte sie bei sich und blieb stehen. Ihr Blick heftete sich auf die aufschwingenden Türen, als die Mönche nach und nach den Saal verließen. Die Novizen traten nach ihnen hinaus, darunter auch die üblichen Lieblinge, die im Kloster das größte Ansehen genossen - Teban, Yama und Shouta. Mit ernsten Mienen gingen sie wortlos an Saya vorüber, lediglich Shouta schenkte ihr ein knappes Lächeln.
Saya wartete, bis sie außer Sichtweite waren und trat dann in den Sitzungssaal. Hora saß an einem der im Kreis angeordneten Pulte und rieb sich müde die Augen, unter denen sich allmählich dunkle Schatten abzeichneten.
"Hora", meldete sich Saya leise zu Wort. "Ich weiß ja, du darfst mir nicht's erzählen, also behellige ich dich auch nicht. Versprochen."
Er schaute nicht auf, seufzte schwer und nahm Federhalter und Papier zur Hand. "Es tut mir leid, dass du nicht einbezogen wirst. Deine Sympathie für das Mädchen ist im Rat nicht ungesehen geblieben. Es lässt sich nicht ändern. Nun, im Moment jedenfalls", erwiderte er trübe. "Wie kann ich dir helfen, Liebes?"
Saya trat zu ihm und legte eine Hand auf seine Schulter. Hora nahm die Angelegenheit sehr mit, doch das sollte niemanden erstaunen. Das kühle Klima, das zurzeit das Kloster beherrschte, versetzte sie alle in Anspannung. "Du solltest dich ausruhen. Die Sitzung war lang und du bist erschöpft. Und erzähl mir jetzt nicht, dass es nicht so ist!"
Sein Blick war sanft und milde wie der eines Vaters, der sein Kind nicht beunruhigen wollte, als er zu ihr aufsah. "Auch mit einem Auge siehst du noch so gut wie mit zweien", bemerkte er und tätschelte ihre Hand.
"Allerdings", stimmte sie zu. Wie sich herausgestellt hatte, war die Verletzung doch mit bleibenden Schäden verbunden, aber damit fand Saya sich gut ab. Es schärfte ihren Blick für das Wesentliche und sie fand sogar, dass die Augenklappe ihr ein ernsteres Auftreten verlieh. Weniger erfreulich war, dass man ihre Verletzung neuerdings als Begründungen dafür angab, sie nicht an den Vorgängen in der Weißen Kammer teilhaben zu lassen. Vorgänge, die mit tiefer Magie verbunden waren und ein hohes Risiko bargen. Saya hielt das für eine weitere Ausrede, sie von dem Geschehen rund um den Drachen fern zu halten.
Sie entzog Hora ihre Hand und stellte sich vor ihn, wieder ganz in ihrer Rolle als Schülerin, und sprach: "Ich bitte um die Erlaubnis, nach dem Mädchen zu suchen. Nach den Gesetzen ist sie im Moment ebenso ein Wesen dieser Welt und verdient unseren Schutz."
Hora rieb sich erneut die Augen. "Ich weiß was du bezweckst, aber ich halte es nicht für klug, dass du diese Aufgabe übernimmst. Dir zuliebe, Saya, lautet die Antwort Nein."
"Sie vertraut mir", wandte Saya ein. "Wen sonst willst du schicken, wenn nicht mich? Ich weiß um meine derzeitige Stellung und es ist mir egal, Hora. Die Meinung der anderen kümmert mich nicht!" Sie verschränkte die Arme vor der Brust.
"Novizin", sprach er plötzlich mit der Sachlichkeit eines Lehrenden, "ich erteile dir hiermit einen Auftrag, der umgehend zu erfüllen ist."
Saya musterte ihn misstrauisch aus zusammengekniffenen Augen. Sie hatte mit mehr Gegenwehr gerechnet, mit einer netten kleinen Diskusion oder einem Donnerwetter.
"Du musst diese Dinge für mich besorgen." Er reichte ihr den Zettel, auf den er ein paar Gewächse und Konzentrate aufgelistet hatte, und hielt ihrem Blick stand. "Und nun will ich kein Wort mehr hören."
Amen.

Mit Wut im Bauch stakste Saya aus der gigantischen Vorratskammer und staunte nicht schlecht, als Yin ihren Weg im Innenhof kreuzte. Er war kalkweis im Gesicht und hielt sich gegen die Mauer gelehnt. Saya stellte die Kiste mit den Besorgungen ab und eilte zu ihm, ihre Wut vorerst vergessend. "Yin, was ist passiert?"
"Saya...", murmelte er mit vorgehaltener Hand. Sekunden später wandte er sich um und übergab sich heftig ins Gras.
Saya strich ihm beruhigend über den Rücken. "Lass es nur raus, das wird gleich wieder", redete sie ihm zu. "Du bist nicht der Erste, der hier sein Innerstes von sich gibt."
Nach ein paar Minuten richtete Yin sich wieder auf, ließ sich von Saya zu einer der Bänke führen und setzte sich.
"War das Essen heute so mies?", fragte sie scherzhaft und strich ihm das schweißnasse Haar aus der Stirn.
Der verschwommene Ausdruck in Yin's Augen aber wischte ihr das Lächeln von den Lippen, als würde man mit dem Schwamm eine Tafel putzen.
Yin nahm ein paar tiefe Atemzüge und setzte an: "Ich glaube, ich kann nie wieder bei so etwas zusehen, Saya. Was Teban jetzt von mir denken muss! Oh Mann... ich bin wie ein Weichei da raus gerannt!"
"Wo raus gerannt?", hakte sie nach.
Yin fuhr sich durch sie wirren Haare und wischte sich mit dem Ärmel seiner Kutte übers Gesicht. "Ich hätte nicht gedacht, dass Zauber, die Gutes bewirken sollen, so etwas anrichten können."
Saya starrte ihn ungläubig an und brauchte eine Sekunde, um sich zu fangen. "Yin, du warst in der Weißen Kammer? Mit Teban?"
"Ja", antwortete er. "Ich wollte unbedingt da rein und Teban meinte, wir könnten die Gelegenheit nutzen, wo jetzt alle mit den Vorbereitungen beschäftigt sind."
Demnach hatte man Teban keine offizielle Befugnis erteilt, die Kammer zu betreten. Ohne einen der Brüder des Rats sollte das auch nicht möglich sein, aber offenbar hatte Teban einen Weg gefunden. Yin da hineinzuziehen war unverantwortlich, aber das stand gerade auf einem anderen Blatt. "Du sagst mir jetzt, was Teban gewollt hat", verlangte Saya und lies keinen Spielraum für Diskussionen.
Yin rang mit sich, nestelte unbehaglich am Saum seines Ärmels. "Er wollte so dringend diesen Zauber anwenden. Er meinte, dass das Wissen eines Drachen für unsere Forschungen wertvoll sein würde. Der Zauber sollte ihm ja nur das Wissen übertragen. Aber was dann passierte... Das... das wollte ich nicht!"
Saya packte ihn ernst bei den Schultern und drehte den Jungen zu sich herum. "Yin, was ist da passiert?!"
Er zögerte, gab aber nach: "Wir haben die Formel zusammen gesprochen. Erst geschah gar nicht's, aber dann... Der Drache ist total ausgetickt! Ich dachte fast, die Ketten würden nicht halten. Sein ganzer Leib bäumte sich auf und die Augen strahlten etwas so Böses aus, wie ich es noch nie gesehen habe." Yin schloss die Augen und hatte Mühe, weiterzusprechen. Sein Gesicht schien gequält von der bloßen Erinnerung, aber Saya drängte ihn, indem sie eine Hand auf seine Schulter legte und drückte. Sie musste auch den Rest wissen. Yin fing sich: "Auf einmal, da riss seine Brust dann auf. Die schwarzen Brustschuppen lösten sich ab und darunter lag die vergiftete Haut, vollkommen schwarz und von abartig violetten Adern durchzogen. Saya, hast du schon mal einen Drachen schreien gehört?"
Saya wurde flau im Magen, doch sie nahm sich zusammen. Yin war noch nicht lange hier draußen und Teban hatte ihn nicht begleitet.
Das kann nur bedeuten, dass er noch nicht fertig ist.
Saya sprang auf und rannte, ohne sich noch einmal nach Yin umzusehen, der ihr nachrief.

Saya sprintete durch die Gänge, nahm immer zwei Treppenstufen auf einmal, wenn sie die Etagen hinunter in die Gewölbe des Berginneren stieg. Sie war ganz außer Atem, als sie endlich den Gang erreichte, der zur Weißen Kammer führte.
Und für einen Moment blieb sie sie erstarrt, als sie Teban dort stehen sah. Er unterhielt sich mit zwei Brüdern, die dem Rat angehörten und mit denen Saya selbst schon Umgang gehabt hatte. Hatten sie ihn auf frischer Tat ertappt? Aber wieso führten sie ihn dann nicht direkt in die Ratskammer, wie es sonst bei Regelverstößen gehandhabt wurde? Oder war diese Aktion gar nicht auf seinem Mist gewachsen?
Sie verbarg sich in einer Nische, gewann die Fassung zurück und versuchte einzuschätzen, was sie tun sollte. Teban zur Rede stellen?

Der wird mir gar nichts erzählen, dachte sie grimmig. 

Ihr Ansehen als Novizin hatte wirklich gelitten, das konnte man nicht schönreden, aber vielleicht war das auch ein Vorteil. Es gefiel ihr zwar nicht, ihre Freunde - Teban eingeschlossen - wie Gegenspieler zu betrachten, aber die ganze Sache lief momentan sehr aus dem Ruder.
Saya befiel in dieser ganzen Angelegenheit mit dem Drachen ein ziemlich mieses Gefühl, was immer das auch zu bedeuten hatte...

Spirited. Always.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt