Klarheit im Nebel

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Etwas tat sich vor ihr auf: Ein blaues Nichts, darin eingehüllt die unverkennbare Silhouette eines Jungen. Er streckte die Hände nach ihr aus und Chihiro folgte der Geborgenheit, die sie versprachen. Statt ihre Hände zu greifen umschloss er behutsam ihre Ellenbogen mit seinen langen Fingern, welche kaum mehr die Finger eines Jungen waren, sondern die eines werdenden Mannes. Er zog sie an sich, bis ihre Fingerspitzen an seine in Seide gekleidete Brust stießen, streichelte über ihre nackte Haut. Er folgte einem unsichtbaren Pfad ihre Arme hinauf zu den Schultern, bis er schließlich die Hand an ihren Hals legte und die Konturen ihres Kiefers entlangstrich. Seine Berührungen rief ein Kribbeln in ihrem Bauch wach, entsandten ein Prickeln in ihren ganzen Körper. Wie von selbst schmiegte sich ihre Wange in seine warme Hand in dem Drängen, ihm noch näher zu sein, das Gefühl vollends einzufangen und auszukosten.

Sie wollte mehr.

Brauchte mehr.

Mehr als diese zarte Berührung.

Sie schaute ihn an - oder versuchte es zumindest, denn seine Gestalt war in pastellblauen Nebel gehüllt, den sie nicht durchblicken konnte, obwohl er direkt vor ihr stand. "Komm", bat sie leise, fast flehendlich. "Bitte komm zu mir. Ich will dich sehen."

"Ich kann nicht", flüsterte er kaum hörbar, als wäre er meilenweit von ihr entfernt und seine Stimme würde nur durch den Wind zu ihr herangetragen.

"Dann lass mich zu dir kommen." Im selben Moment als sie entschlossen vortrat, schien es als würde seine Gestalt sich unter ihren Fingern auflösen; als würde er eins mit dem schleierhaften Nichts, das ihn umgab. "Bleib hier!", rief sie und versuchte ihn zu packen, ihn hierzuhalten. Aber sie hatte keine Chance. Es war, als würde sie feinen Sand mit einem Sieb schöpfen wollen.

Sämtliches Licht verschwand.

Sie konnte nicht atmen und strampelte fest mit den Beinen, bewegte sich träge in den Wassermassen, die sie urplötzlich umgaben. Der Ring an ihrem Finger leuchtete nicht mehr - sein blaues Licht, das sie für Nebel gehalten hatte, war verloschen und hatte der Dunkelheit ihren Platz eingeräumt. Unfähig etwas in der endlosen Schwärze des Wassers zu sehen wurde sie von einer reißenden Strömung erfasst, die sie ruhelos umherwirbelte wie ein gefallenes Blatt, das vom stürmischen Herbstwind erfasst wurde. Egal wie sehr sie sich bemühte, es gelang ihr nicht sich zu orientieren oder irgendwo Halt zu finden. Der Drang, nach Luft zu schnappen, war beinahe übermächtig.

Doch mit einem Mal verschwand die Empfindung zu ersticken und ebenso rasch verging das reißende Hin und Her der Strömung.

"Haku?", rief sie in die Finsternis hinein.

Zwei weiße Ovale entflammten in der Ferne; schwärzer als jeder Schatten bewegte sich eine Gestalt im Dunkeln, die Chihiro die Sprache verschlug und sie wünschen ließ, sie könnte einfach die Augen schließen, um vor ihr verborgen zu bleiben.

Mit jedem schnappenden Atemzug verschwanden die gräulichen Bilder aus ihrem Kopf. Sie war so schnell aus dem Schlaf geschreckt, dass ihre Finger sich um Grashalme geschlossen und sie mitsamt der Erde herausgerissen hatten. Auch in ihrem Mund spürte sie feine Körnchen zwischen den Zähnen.
Chihiro schenkte dem keine Beachtung und versuchte ihr rasendes Herz zu beruhigen. Sie fuhr sich durch die Haare und übers Gesicht, als könnte sie den Schrecken abstreifen, ihn wie eine zweite Haut abstoßen. Ein Gedanke beherrschte ihren Geist, eine Tatsache, die nicht zu leugnen war:

Ich ertrinke. Ich ertrinke. Ich ertrinke.

Wenn es doch nur tatsächliche Wassermassen wären, die sie zu genau diesem Schluss führten. Wenn es nur so simpel wäre, für den Verstand so begreiflich und real. Aber sie ertrank in etwas, das nicht im Entferntesten erklärbar war.  Ihre Bindung zu diesem einen Menschen, diesem Wesen, das einst ein Gott gewesen und nun im Begriff war zu etwas völlig anderem zu werden, reichte tiefer als der weiteste Meergraben.

Ich ertrinke.

Chihiro unterdrückte das Brennen in ihren Augen, das schreckliche Gefühl in ihrer Brust. Sie raffte sich auf und kam schwerfällig vom Boden hoch. Eine Brise wehte angenehm über sie hinweg wie ein stummer Trost.
In nüchternem Bewusstsein musterte sie das Gebäude, das nur einige Meter entfernt vor ihr aufragte. Es wirkte gänzlich unverändert; rot schimmernd mit einer großen Uhr, die auf die frühe Morgenstunde verwies. Ein langer schwarzer Durchgang eröffnete sich ihr wie ein Lockruf: Der Tunnel schien sie förmlich in Versuchung führen zu wollen, einfach hindurch auf die andere Seite zu gehen. Zurück in die Realität. In die wirkliche Welt.

Wer kann schon sagen, was wirklich ist?, fragte ihre innere Stimme mit einem wissenden Schmunzeln.

Und damit wandte sie sich ab und marschierte in die andere Richtung, die sie auch damals schon eingeschlagen hatte, als alles begann. Der bedeutende Unterschied war diesmal, dass sie ziemlich genau wusste, was auf sie zu kam.

Nur Mut, raunte es in ihrem Innern.

Spirited. Always.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt