Das Erwachen

349 32 8
                                    

Ihr Haar tropfte, obwohl sie bestimmt seit einer Stunde vor der kuschelig warmen Herdstelle saß, in der das Feuer langsam herunterbrannte. Das Handtuch hing über der Lehne des Stuhls, auf den sie sich gesetzt hatte. Chihiro konnte nicht behaupten, dass ihr die Regendusche eine Freude gewesen war, zumindest fühlte sie sich nicht wirklich besser. Es war ihr peinlich unangenehm, Haku in seinem Zustand so nah zu sein. Er mochte zwar schlafen, doch sie wurde das Gefühl nicht los, dass er sehr genau wahrnahm was um ihn herum geschah. Die nassen Sachen auszuziehen, war für Chihiro eine Tortur gewesen. Nachdem sie einige Minuten im strömenden Regen verbracht hatte - hauptsächlich, um ihren Kopf freizubekommen, allerdings mit wenig Erfolg - war sie pitschnass hereingetrottet und war krampfhaft am Überlegen, wie sie sich umziehen sollte. Zeniba besaß einen Paravent, aber sonderlich geschützt hatte sie sich nicht gefühlt, zumal er direkt neben dem großen Bett stand, in dem Haku schlief. Ihn umzustellen hatte sie nicht fertiggebracht. Das Teil war viel schwerer als es aussah, und als sie versucht hatte ihn anzuheben quietschte er furchtbar, sodass sie es schnell wieder bleiben ließ.

Chihiro hatte das Gefühl also in Kauf genommen und sich sekundenschnell umgezogen; Zeniba hatte ihr ein Unterhemd, ein langärmliges beiges Wickeltop und lange, bauschige Hosen in einem hübschen Dunkelgrün herausgelegt. Sie hätte Zeniba am liebsten umarmt, dass sie sogar an Unterwäsche gedacht hatte - Chihiro dachte bislang nicht, dass sie sich jemals so sehr über ein Baumwollhöschen freuen würde.

Die Decke, die sie einhüllte, wärmte ihren Körper so herrlich, dass ihr die Augen immer wieder zufielen. Irgendwann legte sie sich auf die Sitzbank am Esstisch und genehmigte sich die Ruhe, nach welcher ihr Körper verlangte. Auch für sie war der Tag anstrengend und lang gewesen.

Chihiro erwachte durch das Grummeln ihres Magens. Wann hatte sie nur zuletzt etwas gegessen? Im Kloster, wenn sie so darüber nachdachte. Das war schon zwei Tage her.

Sie schob die warme Decke von sich und steckte sich das wirre Haar mit Stäbchen zu einem lockeren Knoten zurück, bevor sie sich aufsetzte und nach etwas Essbarem suchte. In Zeniba's Vorratsschränken fand sie Säcke voller Reis, große Karaffen, in denen sich wohl so etwas wie Reiswein befand, und - als sie sich schon auf die Suche nach einem Topf machen wollte und ihr Blick am Esstisch hängen blieb - einen Berg Onigiri, angerichtet auf einem Servierteller. Chihiro lief das Wasser im Mund zusammen, sie nahm Platz und griff nach dem Ersten. Hmf, köstlich!

Sie hatte bestimmt den halben Teller verputzt und schickte Zeniba in Gedanken ein Dankgebet. Ohne sie wären sie und Haku ziemlich aufgeschmissen gewesen...

Apropos, schoss es ihr ein und sie schaute zum Bett hinüber. Haku hatte sich noch kein Stück bewegt. Er lag einfach da. Seine Brust hob und senkte sich regelmäßig und schon viel kraftvoller als am vergangenen Tag, wie Chihiro auffiel. Sie kaute den Rest eines Onigiris herunter, ehe sie aufstand und sich auf die Bettkante zu ihm setzte. Ob er endlich wieder bei Kräften war? Sollte sie ihn wecken, oder ihn lieber weiterschlafen lassen? Sicherlich würde er auch bald etwas essen müssen... oder wenigstens mal aufs Klo gehen wollen? Wie lange lag er schon so da? Chihiro's Zeitgefühl ließ sie ziemlich im Stich. In Zeniba's Haus gab es leider keine Uhr, aber es musste schon fast Mittag sein.

Haku rührte sich. Er schlief noch, drehte nur leicht den Kopf zur Seite, wobei ihm das lange Haar ins Gesicht fiel. Ohne darüber nachzudenken streckte sie die Hand aus und strich ihm die Strähne zurück. Sein Haar war glatt und weich, fast als würde man über Wasser streicheln. Chihiro gefiel der Vergleich, er brachte sie zum Lächeln. "Passend für einen Gott wie dich", brabbelte sie leise und tat es noch einmal, strich vorsichtig über sein schulterlanges Haar. Wie damals auch war sein Pony gerade geschnitten und rahmte sein Gesicht perfekt ein. So friedlich wie er aussah verschwendete Chihiro keinen Gedanken mehr daran, dass das Biest in ihm wieder hervortreten könnte, und sie wollte gar nicht aufhören ihn anzufassen. Dennoch zwang sie sich dazu, als Haku sehr tief Luft einatmete und es sich unter seinen Augenlidern zu regen begann.

Er wacht auf, dachte sie, keine Sekunde zu früh. Haku öffnete die Augen, doch nur gerade weit genug, sodass Chihiro das Smaragdgrün darin erkennen konnte. Anders als sonst schien es viel dunkler, ja beinahe schwarz. Er blinzelte mehrmals, ehe er sie ganz aufschlug und Chihiro die Farbe ganz genau einordnete: ein dunkles Tannengrün mit leuchtend smaragdenen Sprenkeln umrahmte die schwarzen Pupillen.

"Willkommen im Land der Lebenden", sagte sie leise und lächelte wieder, als sein Blick den ihren festhielt. "Du hast eine kleine Ewigkeit geschlafen, Dornröschen."

Haku's Mundwinkel zuckten amüsiert. "Dir geht es also gut", stellte er fest und klang erleichtert. 

Chihiro runzelte die Stirn. "Hast du etwas Anderes erwartet?"

Statt zu Antworten bewegten sich seine Arme. Er wollte sich wohl aufsetzen, verzog dabei aber das Gesicht. Chihiro kam ihm zu Hilfe, eine Hand stützend auf seinen Rücken gelegt, die andere ruhte auf seiner Schulter. "Hey, immer langsam. Wie gesagt, du hast ziemlich lange dagelegen."

"Alles fühlt sich taub an", bestätigte er. "Ich fühle mich, als wäre ich einmal um die Welt geflogen. Jeder Muskel schmerzt."

Chihiro stand auf nachdem sie ihm ein Kissen hinter den Rücken geschoben hatte, um ihm das Sitzen zu erleichtern. Sie füllte ein Glas mit Wasser und brachte es ihm. "Weißt du, es ist ungewohnt, dich nicht mehr meinem Kopf zu hören."

Wer sagt, dass ich nicht mehr dort bin, fragte er mit einem verschmitzten Ausdruck in den Augen, während er das Glas leerte.

Chihiro schüttelte lächelnd den Kopf. "Damals hast du das noch nicht gekonnt."

"Wir entwickeln uns alle weiter, nicht wahr?"

"Ob zum Guten oder Schlechten, ist die Frage". Chihiro wusste nicht, ob die Anspielung eine kluge Idee war, aber es schoss ihr einfach durch den Kopf. Außerdem hatte sie nun lange genug auf Erklärungen warten müssen. Einen weiteren Aufschub würde sie nicht hinnehmen. Wer wusste schon wann sie wieder die Gelegenheit haben würde, Haku zur Rede zu stellen.

Ihm war wohl klar worauf sie hinaus wollte, denn er wandte den Blick von ihr ab und lehnte sich in die Kissen zurück. Er sah immer noch ziemlich erschöpft aus trotz des langen Schlafs; seine Augen lagen in tiefen Schatten.

"Du erinnerst dich an damals", stellte er fest und starrte an irgendeinen Punkt an der gegenüberliegenden Wand. "Auch ich wollte in meine Welt zurückkehren, als du fort warst."

"Ja, ich erinnere mich."

"Ich habe mich noch am selben Tag von Jubaba losgesagt. Wie du wollte ich ein Portal durchschreiten", sprach er ruhig, schaute in die Ferne, als blickte er auf jenen Tag zurück. "Ich stand davor, aber ich kam nicht hindurch. Etwas hinderte mich daran."

"Was war es?" Chihiro empfand Traurigkeit, als sie darüber nachdachte. Sie erinnerte sich an ihre eigene Sehnsucht nach der Heimat, nach ihren Eltern, und Haku hatte weit länger Jubaba's Sklave sein müssen. Erst Chihiro konnte ihm den Schlüssel zu seiner Freiheit geben - seinen wahren Namen. Kohaku.

"Ich stamme nicht aus der Welt der Menschen, wie du weißt. Ich bin ein Gott"

"In meiner Welt bist du ein Fluss", fügte sie hinzu, unwissend worauf er hinauswollte.

"Ja, aber ich bin dennoch ein Gott. Einer von Tausenden."

Chihiro zog ein Bein an und rückte an einen der Bettpfosten, um sich anzulehnen, während sie zu verstehen versuchte.

Haku seufzte. "Ich konnte die Barriere nicht durchschreiten, weil ich es verloren habe. Dieses Etwas, das mich zu dem macht, was ich bin. Was ich war."

Verwirrt blickte sie ihn an: "Tut mir leid, ich verstehe nicht".

Sein Blick wanderte zu ihr, so langsam, dass sie sich wie ertappt fühlte. Nun funkelten seine dunklen Augen wieder so voller Leben, wie in dem Moment, als sie damals mit ihm durch die Luft geschwebt war - damals, als er sich wieder seines Namens erinnerte. Doch ein trauriger Ausdruck warf einen Schatten darüber. Sie konnte kaum blinzeln, so schnell rutschte er näher an sie heran, bis sie nur Zentimeter voneinander trennten. Mit gänzlich ernstem Gesicht, aus dem jede andere Emotion gewichen war, offenbarte er: "Ich bin kein Gott mehr, Chihiro. Und je länger ich hier verweile, umso mehr verliere ich von dem, was mir noch geblieben ist."



Spirited. Always.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt