Und spielst du mit Göttern, so spielst du mit dem Feuer (1)

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Chihiro setzte ihm nach und hielt abrupt am Rahmen des Einschlaglochs inne. Täte sie noch einen Schritt, fiele sie ins Meer, das wie ein gewaltiger blauer Teppich direkt vor ihr lag. Sie schluckte schwer. Wie hatte sie nur die Tatsache aus den Augen verlieren können, dass Haku sich in einer Art mystischen, labilen Zustands befand? Dass er diese übermannenden Anfälle hatte und dass diese unberechenbar waren? Dass Haku unberechenbar war, wann immer seine Augen ihren wunderbar lebendigen, smaragdenen Glanz verloren und etwas Ungreifbares, gar Böses an seine Stelle trat? Dass er in seinem Zustand nicht wieder versucht hatte sie zu jagen, mochte in diesem Augenblick ein schwacher Trost sein, doch sie bezweifelte, dass das ein gutes Zeichen war.

Rein gar nichts daran ist gut, dachte sie schwermütig und straffte kurzerhand die Schultern. Haku würde sie jetzt nicht beschützen können; im Grunde, war sie diejenige, die ihn schützen musste. Die ihm helfen, ihm nach ihren Kräften beistehen musste. Soviel wurde ihr in diesem Augenblick zumindest klar: Er hatte ihr so oft geholfen, ihr das Leben gerettet und das mehr als nur ein Mal; wann immer sie stürzte, war er da, um sie aufzufangen - in jeder erdenklichen Hinsicht. Damals wie heute.

Chihiro trat von der Wandöffnung zurück und legte sich die Stola um die Schultern, als würde sie sich eine Rüstung anlegen und sich für einen Kampf wappnen. Kurzerhand wählte sie einen der langen Flure, dem sie unentwegt folgte. Sie verdrängte die auflodernde Angst, die mittlerweile zu einem Teil von ihr geworden war, und fegte die Gedanken an Haku beiseite. Ihr Grübeln, ihr Jammern, ihre Selbstvorwürfe, dass sie es hätte bemerken müssen... All das würde ihm jetzt nicht helfen. Es würde Chihiro nicht weiterbringen, und in Tränen ausbrechen würde sie jetzt auch nicht. Streng genommen fühlte sie die unbändige Frucht auch nicht, wie sie es sonst immer getan hatte. Es war mehr ein kühles Bewusstsein; die Angst lähmte sie nicht, wie auch die Sorge um Haku - die Fragen, was er nun tun, wohin er fliegen würde, was ihm zustoßen und wem er in seiner bestialischen Raserei begegnen könnte - ihr Herz und ihren Geist nicht krampfhaft umklammerte.

Irgendwann, nachdem sie etliche Male abgebogen, einem anderen Flur gefolgt und einen Treppenabsatz hinaufgestiegen war, ohne jemandem zu begegnen, schlug ihr sanfte Musik entgegen. Es waren zarte Klänge, die an Orchestermusik erinnerten. Zumindest konnte Chihiro den geschmeidigen Klang einer Geige erkennen. Sie folgte der Melodie, die von überall herzukommen schien, und fand sich in einem anderen Korridor wieder. Das Parkett setzte sich auch weiterhin fort, nur bildete es kein Schachbrettmuster mehr sondern verlief in einem zickzackartigen Geflecht. Der Opal an den Wänden wurde durch ebenso kostbare Jade abgelöst. Die Musik wurde ein wenig lauter, als Chihiro deren Ursprung näher kam, und sie grub die Fingernägel in ihre Handflächen, um der Nervosität entgegenzuwirken, die sich in ihr breitmachte. Sie trat an einen Bogen, welcher von feingliedrigen Gewächsen in Grün und Orange umrankt war, und augenscheinlich in einen weitläufigen Saal führte. Für Chihiro erschien es immer unwahrscheinlicher, dass sie sich auf einem Schiff befand, wie sie erst vermutet hatte. Viel mehr erinnerte sie die Szenerie an einen alten Palast oder womöglich einen reich ausgestatteten Tempel.

Es verschlug ihr beinahe den Atem, als sie den Saal betrat. Dabei war es nicht einmal ein Saal, denn ein Saal besaß doch eine Decke, wie jeder Raum eine Decke besaß, nicht wahr? Dieser hier besaß zumindest keine. Das war eines der ersten Dinge, die ihr sofort auffielen: der ungehinderte Blick auf den strahlenden Himmel, getaucht in die schillernden Farben des Sonnenuntergangs; eine Sinfonie aus Weiß, Orange, Rosa und Violett. Und obwohl das Licht den Saal kaum erreichte, fanden sich all diese Farben in dessen stilvollem Dekor wieder, harmonierend mit verschiedensten Blautönen. Bodenlange Wandbehänge in Form mehrerer Stoffbahnen, die sich über sämtliche Wände erstreckten und sich beim leisesten Lufthauch anhoben. Und so schimmerten sie prächtig in den Farben von Opal, Azur und dunklem Türkis, in Graublau, sattem Marine- und Veilchenblau. An manchen dieser Stoffbahnen leuchteten flammend orangene und zartviolette Blüten, die einen wunderbaren Kontrast schufen und die Farben des Himmels aufgriffen. Überall standen riesige, hölzerne Säulen, die scheinbar ins Nichts führten und von den gleichen Blütengewächsen umrankt wurden, strahlend wie Fackeln in der Dunkelheit. Und inmitten dieses wunderschönen Ensembles, das hypnotisch auf Chihiro wirkte, bewegten sich etliche Gestalten. Götter (zahlreich, wie sie waren) konnten in allen möglichen Erscheinungsbildern auftreten, so erinnerte sie sich. Sehr lebhaft war ihr ein gewisses gespenstartiges Wesen im Gedächtnis geblieben, das sich später allerdings als göttlicher Plagegeist mit unersättlichem Appetit auf von Gier ergriffenes Lebendfutter herausgestellt hatte.

Spirited. Always.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt