Sie erreichte das Treppenende, presste sich an die steinerne Wand, um den nächsten Gang hinunter zu spähen, und schlich dann weiter. Wieder kam eine Treppe, bei der sie es genauso handhabte. Es begegnete ihr niemand. Die Tatsache, dass es hier keine Fenster gab, ließ sie vermuten, dass sie sich schon weit im Berginneren befand. Das war gut, nur verlor sie allmählich das Zeitgefühl. Licht spendeten ein paar schlichte Lampions, die in regelmäßigen Abständen an den Wänden angebracht worden waren. Der Gang gabelte sich; Chihiro überprüfte, dass ihr niemand entgegenkam, und entschied aus dem Bauch heraus. Er entpuppte sich rasch als Sackgasse, zu beiden Seiten gab es zwei Räume, durch deren Türen nicht der winzigste Laut drang, als sie ein Ohr dagegen presste. Nach kurzem Zögern warf sie ins erste Zimmer einen flüchtigen Blick und wollte schon die Tür wieder zuschlagen, als nichts dahinter auf ein Gewölbe vermuten ließ... Wären da nicht Dutzende seltsamer Gegenstände sorgsam verstaut gewesen. Sie hingen aufgereiht an den Wännden, lagen sortiert in großen, offenen Metallkisten oder befanden sich in dafür vorgesehenen Halterungen.
Die Waffenkammer. Himmel, und was für Waffen das waren! Über dutzende verschiedene Messer, Dolche und Schwerter bis hin zu Armbrüsten, Speeren, Stäben und Lanzen.
Kloster, das ich nicht lache, dachte Chihiro eisig und schloss die Tür, nur um die nächste aufzureißen. In dem Raum daneben wurden Rüstungen für Brust, Beine, Arme und Rücken aufbewahrt. In den anderen Zimmern schien sich das Sortiment noch zu erweitern. Sie erkannte darunter sogar die magischen Schellen, mit denen die Novizen versucht hatten, Haku zu bändigen.
Chihiro fehlten die Worte, doch sie wollte nicht darüber nachdenken, was sie bei diesem Anblick empfand. Stattdessen lief sie zurück und wählte den anderen Gang. Sie schlang sich die Arme um den Leib, als ihr kalt wurde - ob von der Temperatur oder dem eben Gesehenen, wusste sie nicht. Sie ging immer weiter, versuchte konzentriert zu bleiben und fand wieder eine Treppe.
Wie haben die Haku nur hier runter transportiert?, fragte sie sich irgendwann. Einen Drachen dieser Größe konnte man nicht tragen, geschweige denn ihn so viele Treppen hinunter bugsieren. Wahrscheinlich machte Magier aber auch das möglich.
Tatsächlich wurde es zunehmend dunkler und kühler. Chihiro hatte längst die Orientierung verloren. Wie tief war sie hier wohl? Wo blieben nur die Gewölbe?
Ganz ruhig. Immer schön tief durchatmen, sagte sie sich selbst und unterdrückte ein Zittern. Gänsehaut breitete sich auf ihrem Körper aus, intensiv wie kleine Nadelstiche. Es wurde noch kälter und Chihiro fröstelte. Sie konnte ihren Atem wie eine Nebelwolke vor sich sehen.
Haku, wo bist du?
Wieder eine Gabelung. Unschlüssig blickte sie in beide Richtungen und traf blind eine Entscheidung. Nichts gab ihr hier irgendeinen einen Anhaltspunkt dafür, dass sie auf dem richtigen Weg war. Die Lampen, umgeben von einer kalten, winterlichen Aura, spendeten immer weniger Licht und schienen sich immer weiter zu entfernen. Chihiro fiel das Atmen plötzlich schwer, der Gang wurde vor ihr immer schmaler, als würden sich die Wände aufeinander zu bewegen. Ihr Herz pumpte so schnell, dass sie ihren Puls hören konnte. Der Schmerz in ihrer Hand war vergessen, die Finger spürte sie längst nicht mehr.
Nein, bitte nicht, schoss es ihr durch den Kopf, als sie plötzlich das Ende des Gangs erreicht hatte. Hier ging es nicht mehr weiter. Geräusche, seltsam verzerrt, hallten von den Wänden wider. Anfänglich ein leises Wispern, ein unverständliches Flüstern, das immer deutlicher wurde.
Wie weit willst du gehen?
Sie drehte sich abrupt um und presste sich mit dem Rücken an die Wand. War ihr jemand gefolgt? Hatte sie überhört, dass jemand kam?
Angestrengt lauschte sie, doch keine Schritte waren zu hören und niemand erschien.
Ein grollendes Knurren, fast wie ein düsteres Lachen erklang. Es wurde lauter und lauter.
Wie weit gehst du, Menschenkind? Würdest du sterben? Würdest du?!
Chihiro wirbelte um die eigene Achse, um herauszufinden, wer da sprach. Aber außer ihr war niemand da. Nur sie, am Ende eines Gangs in der zunehmenden Finsternis.
Wieder dieses Lachen.
"Nein... Verschwinde!", flüstertr sie in die Leere hinein und presste sich mit aller Kraft die Hände auf die Ohren, als die Geräusche lauter wurden. Etwas kitzelte sie im Nacken, das sich wie kalter Atem anfühlte, obwohl niemand hinter ihr stand. Etwas Ungreifbares, wie feiner Rauch, waberte um ihre Beine und kroch an ihnen hinauf, als wollte es Chihiro einhüllen. Es war keine direkte Berührung, doch es wirkte nicht weniger aufdringlich.
Wie weit gehst du, nun sag schon! Wie weit?!
"Hör auf! Verschwinde!"
Er schmeckt so gut. Sooo gut. Sein Schmerz ist köstlich. Seine Schreie sind wie Musik!
Sie unterdrückte ein Schaudern und nahm sich die Hände von den Ohren. Ihre Wangen wurden eiskalt, denn sie waren feucht von Tränen. Mit dem Handrücken wischte sie sie fort und sagte laut: "Das ist nicht echt. Das ist... nur in meinem Kopf."
Ja, in deinem Kopf. Ja, da bin ich. Er kann es kaum mehr verhindern. Bald nicht mehr! Bald ist es aus mit seinem Willen!
"Wer bist du?", fragte Chihiro mit zittriger Stimme.
Er hat sich ja so für dich angestrengt. Nun ist fast nichts mehr übrig. Ja, dann. Dann gehört er mir. Ein so starker Körper, ganz für mich allein! Nicht mehr lange. Und dann, Menschenkind! Dann spielen wir beide wieder, und er wird mich nicht mehr aufhalten.
"Spielen? Wovon sprichst du? Wer bist du?"
Wieder dieses abscheuliche Lachen. Das Knurren.
Nur Geduld. Bald werden wir wieder spielen. Du läufst und ich fange. Ich fange!
"Laufen und fangen. Ein Fangspiel? Wieso willst du mit mir spielen?", fragte sie mit einem Kloß im Hals. Die Angst machte ihr das Reden schwer. Wie konnte das sein? Was war es nur, das den Weg in ihren Kopf gefunden hatte? Diese Stimme, wenn man sie denn so nennen wollte, schien ihren schlimmsten Albträumen entsprungen zu sein.
Ja, bald habe ich dich. Dann fresse ich dich und er hält mich nicht mehr auf. Nein, nie wieder.
Oh Gott, dachte sie, die Augen von der Erkenntnis schreckgeweitet. Sie wusste, was da zu ihr sprach, und es drehte ihr den Magen um. Nie hätte sie sich vorgestellt, dass dieses Ding ein völlig eigenes Bewusstsein hatte. Mit vorgeschlagener Hand dachte sie daran, wie das Biest sie durch den Wald vor Zeniba's Haus gehetzt hatte. Leere Augen, ein totes Weis. Schwarze Klauen, die sich so oft schon nach ihr ausgestreckt hatten.
"Haku lebt noch", wisperte sie, mehr zu sich selbst, um sich von der Angst nicht verschlucken zu lassen. Dass der Dämon die Macht hatte, mit ihrem Geist in Kontakt zu treten, wie nur Haku es vermochte, war markerschütternd. Aber eines durfte sie nicht vergessen: Der Dämon in ihm mochte zwar immer mehr an Macht gewinnen, aber Haku existierte noch. Er war nicht verloren. Er kämpfte noch immer gegen ihn an, der Dämon hatte es eben selbst gesagt.
"Hallo?", flüsterte sie, als der Rauch verschwand und die Geräusche verstummten. "Bist du noch da?"
Doch es war totenstill.
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Spirited. Always.
FanfictionNie hätte Chihiro geglaubt, dass ihre Träume in Wahrheit Erinnerungen an eine Vergangenheit sind, in der sie sich mit alten Hexen, Verzauberungen und Gottheiten hatte herumschlagen müssen. Aber alles war real gewesen - ER war real. Obwohl Chihiro ih...