Von Göttern und Menschen (1)

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"Was bedeutet das?", fragte sie unbeholfen, denn sie wollte Hakus's Worten folgen. Verdammt, sie musste es sogar, denn dies war ihre Gelegenheit - vielleicht ihre einzige.

"Ich esse nicht", sprach Haku mit einem Blick auf die Onigiri, die Chihiro für ihn übrig gelassen hatte. "Ich esse nie, Chihiro. Genauso wenig, wie ich schlafe."

"Du schläfst nicht?", fragte sie höchst skeptisch und dachte an die vergangenen Stunden, die er reglos dagelegen hatte.

"Das war kein Schlaf, eher eine Art Bewusstlosigkeit, die von der Magie herrührte. Das war das erste Mal seit Monaten, dass ich die Augen für längere Zeit geschlossen hatte." Für Chihiro kaum vorstellbar, doch sie gab ihr Bestes, ihm Verständnis entgegenzubringen. Sie wollte ihn verstehen, seine Lage nachvollziehen können, wie immer sie aussehen mochte.
"Du kannst nicht oder du willst nicht?", hakte sie nach.

Haku blieb vollkommen ungerührt, als er sagte: "Ich brauche es nicht. Ich werde nicht müde, bin nie erschöpft oder muss mich ausruhen. Meine Augen mögen geschlossen sein, aber mein Verstand und meine Sinne sind hellwach."

Chihiro konnte kaum begreifen, was er ihr da erzählte, auch wenn sie sich redlich bemühte. Haku beschrieb sich als eine endlos laufende Batterie, deren Energie niemals versiegte. "Ist das gesund, für jemanden wie dich?"

Ein Schmunzeln huschte über seine Züge, doch es zeugte einzig von Bedauern und einer gewissen Traurigkeit. "Derartige Bedürfnisse habe ich nie verspürt." Sie traute sich kaum nachzufragen, denn seine Antwort war umso verwirrender, aber er musste es in ihrem Geist gelesen haben, als er weitersprach: "Für mich war es immer sehr faszinierend, dich im Badehaus zu beobachten, wann immer ich konnte. Oft, wenn du geschlafen hast."

Heiß glühten ihre Wangen, während ihr Mund sich für den Bruchteil einer Sekunde empört öffnete. "Du hast mich im Schlaf beobachtet?"

"Natürlich", gab er augenblicklich zurück, als wäre es eine Selbstverständlichkeit und kein Vergehen, und schlug die Augen auf, um ihren Blick einzufangen.

Chihiro wünschte, er würde sie nicht so eindringlich ansehen. Er wartete ihre Reaktion ab, beinahe schon ratlos, was sie daran störte. "Muss ich dir das wirklich erklären?"

"Entschuldige, aber ich verstehe es nicht. Du hast dabei immer so zufrieden ausgesehen. Als gäbe es nicht, das dich innerlich aufreiben würde, allein beseelende Ruhe und schöne Gedanken. Alles, was dir im wachen Zustand nie innewohnte. Für mich war der Anblick oft tröstend." Haku verzog keine Mine. "Warum ist es dir also unangenehm?"

Tröstend... Sie hätte sich selbst um ein Haar schlecht gefühlt, dass sie es ihm vorwarf. Er sagte, er würde im Grunde nicht wissen, was Schlaf ist. Sein Körper brauchte keine Ruhepause, keine Erholung. Tatsächlich war Schlafen für ihn völlig fremd - vielleicht ja so fremd wie es der Gedanke für Chihiro war, sich in einen Drachen verwandeln zu können.

"Ein treffender Vergleich", bestätigte Haku lächelnd. Wir sind einander fremde Wesen, Chihiro, und doch sind wir uns nah.

Sie erwiderte sein Lächeln, aus dem die Verbundenheit zweier Seelen sprach, die einander über Jahre der Entfernung wiedergefunden hatten.

Haku war aufgestanden um sich ein wenig frisch zu machen. Als Chihiro das Haus verlassen wollte, um ihm die Privatsphäre zu lassen, welche sie sich von ihm auch erwartet hätte, bedachte er sie mit einem fragenden Blick und lehnte ihre Rücksichtnahme mit den Worten: "Du möchtest gehen, statt dich mit mir auszusprechen? Ich dachte, du würdest dich von nichts davon abhalten lassen? Zumindest habe ich dich das im Geiste ständig sagen hören. Außerdem ist es keine gute Idee draußen herumzuspazieren, während ein paar Magielehrlinge versuchen uns auszuspüren, trotz Zeniba's Schutzzauber". Und so war Chihiro geblieben - wenn auch zwiegespaltener Gefühle. Um nicht wieder in Verlegenheit zu geraten, zog sie sich einen Stuhl an die Herdstelle und setzte sich mit dem Rücken zu Haku, der es wortlos hinnahm und sich ohne Hemmungen auszuziehen begann. Der Fall des Stoffes seiner Kleidung auf den Boden war für Chihiro's Ohren in dem Moment so herausstechend aus der übrigen Geräuschkulisse wie das laute Klirren von zerspringendem Geschirr."Was ist dann geschehen?", setzte sie an, räusperte sich und starrte in die Glut vor sich. "Du sagst, du bist nicht durch das Portal gekommen?"
"Portale funktionieren zu ihren eigenen Bedingungen. Sie sind die Brücken zwischen den Welten und sorgen für ein Gleichgewicht."
"Indem sie die Magie aus meiner Welt fernhält, zum Beispiel", fiel sie ihm ins Wort, betrachtete den mystischen Ring an ihrem Zeigefinger und dachte an ihr Gespräch mit Hora im Garten des Klosters, als er ihr diese Lektion gegeben hatte.
"Auch in deiner Welt existiert Magie, Chihiro, nur auf einer anderen Ebene. Eine, die viel elementarer ist. Ursprünglicher und unverarbeitet."
Sie lachte. "So wie die Liebe, meinst du?"
"Schicksal ist, glaube ich, ein recht treffender Begriff."
Chihiro dachte darüber einen Moment nach. Das Schicksal war nicht wirklich eine Kraft, an die sie persönlich glaubte. Ihre Generation war eher der Ansicht, man solle sein Leben selbst in die Hand nehmen, glaubte an dumme Zufälle und eigenständig geschaffene Pläne. Chihiro wollte sich nicht unbedingt zu dieser Art zählen, aber für sie klang die Aussicht auf die Existenz einer höheren Macht nach etwas, das sich zu anzuzweifeln lohnte. Magie in einer Welt der Technologie und der Aufklärung wirkte so fehl am Platz wie ein Märchenschatz im Sachbücherregal.
"Das Portal ließ mich nicht hindurch", fuhr Haku unbeirrt fort. "Ich konnte es mir nicht erklären, war zu überrascht und verwirrt, als ich die Schwelle nicht durchschreiten konnte, die mich heimbringen sollte, nachdem ich meinem Vertrag mit Jababa endlich entkam. Dass etwas nicht stimmte war offensichtlich, aber ich wusste nicht, wo ich zu einer Antwort ansetzen sollte. Ich kehrte also zum Badehaus zurück und bat Jubaba um Rat - ich spürte, dass wir im Guten auseinandergegangen waren, trotz ihrer widerspenstigen Art."
Aufmerksam lauschte sie seinen Worten, untermalt von leisem Plätschern, dem zarten Streichen von Schwamm über Haut. "Widerspenstig, ja", pflichtete Chihiro ihm schmunzelnd bei und dachte an die Frau mit der harten Schale und dem weichen Kern, welche sie einst Großmütterchen genannt hatte. "Was hat Jubaba dir geraten?"
Haku tauchte neben ihr auf. Seine Haut und sein Haar schimmerten noch feucht, als er sich ihr gegenüber auf die Bank an der gekachelten Wand setzte, die erkaltende Herdstelle direkt neben sich. Ein Bein zog er an, legte den Ellenbogen auf das Knie und spielte mit den Fingern an seinem Kinn. "Sie war sehr überrascht, als ich wiederkam. Nach einiger Überredung war sie dann bereit, mich anzuhören."
"Und?"
Haku sah Chihiro an und in seinen smaragdenen Augen, in denen die letzten Funken der Glut in der Herdstelle tanzten, und sah den Hauch einer Veränderung. Das Grün war dunkler geworden, so dunkel, dass es an manchen Stellen sogar schwarz wirkte. "Lieber würde ich es dir zeigen, wenn du mich lässt." Seine Stimme war sanft wie ein lauer Herbstwind im abendlichen Spätsommer. Chihiro brauchte nicht zu antworten, denn Haku beugte sich bereits vor und streckte den Arm langsam genug nach ihr aus, sodass sie ihn hätte aufhalten können, wenn sie es gewollt hätte. Stattdessen berührten seine Fingerspitzen ihre Wange, glitten zärtlich über ihre Haut, bis sie den Ansatz ihres Haars an der Stirn erreichten. Chihiro überkam ein wohliges Gefühl und sie schloss unwillkürlich die Augen, um es zuzulassen, und erlaubte sich, es zu genießen. Sie ging so weit, ihre Wange in Haku's weiche Hand zu schmiegen, den leicht seifigen Duft seiner Haut einzuatmen und seine Wärme zu spüren. Der Daumen, der dabei über ihren Nasenflügel und ihr Auge strich, tat sein übriges und Chihiro ließ die Bilder zu, die Haku's Geist ihr übermittelte...

Spirited. Always.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt