Wie fühlt sich Sterben an?

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Alles Licht verschwand nach und nach und die Finsternis nahm dessen Platz ein. Wieder war Chihiro der Orientierungslosigkeit ausgeliefert und Panik ergriff von ihr Besitz. Es war ein fruchtbares Gefühl, denn immer noch befand sie sich unter Wasser. Die Zeit verging zu langsam, und schreckliche Gedanken kamen ihr in den Sinn. Würde sie sterben? Im See ertrinken?                 Wieder versuchte sie gegen das Wasser anzukämpfen, strampelte mit den Beinen und nutzte ihre Arme mit all der Kraft, die sie aufbringen konnte. Sie erstickte, widerstand der Versuchung nach Luft zu schnappen und das schwarze Seewasser einzuatmen.

Chihiro 

Wieder die vertraute Stimme, diesmal jedoch lauter und weit weniger sanft, als bei den letzten Malen. Sie war harsch und streng, beinahe maßregelnd. 

Du ertrinkst nicht. Hör auf, zu kämpfen. Hör auf, dich dagegen zu wehren! 

Sie glaubte kein Wort, konnte es einfach nicht. Es war viel zu irrational zu denken, alles würde gut werden wenn sie sich fallen und vom Wasser verschlucken ließe. Dabei ertrank sie doch!    

Du musst mir vertrauen, Chihiro. Du wirst nicht sterben. Du musst loslassen.

Ich kann nicht, dachte sie verzweifelt. Ich kann doch nicht! Ich muss nach oben schwimmen! Wäre sie nicht schon unter Wasser, könnte man ihre Tränen sehen. Die Panik ließ einfach nicht nach, sie konnte kaum klar denken. Was ist schon Todesangst, wenn man sie nie erlebt hatte? Es übertrieben dahinzusagen, darüber wirklich nachzudenken, aber es erleben? Was gab es schon Schlimmeres? Und dann sollte sie sich dazu durchringen, diesen Kampf aufzugeben - den Kampf um ihr Leben. 

Es ebbte ab. Ihre Kräfte verließen sie, denn lange würde sie die Luft nicht mehr anhalten können. Sie würde kapitulieren, Wasser schlucken, das ihre Lungen füllen und sie ersticken lassen würde. Die Kälte fraß sich unbarmherzig in ihre Knochen; sowohl die Kälte des Sees als auch die, die diese schreckliche Ahnung in ihr auslöste. Ich sterbe, dachte sie schmerzerfüllt und kam nicht umhin, mit dem Gestrampel aufzuhören. Sie brauchte alle ihre Reserven um dem Drang zu widerstehen, um nicht einzuatmen.

Chihiro, vertrau mir. Lass los.

Sie konnte nicht denken, ihr Bewusstsein begann sich zu verabschieden. Es war, als würde sie immer wieder wegnicken. Ihr Körper entspannte sich und trieb im Wasser - zu mehr Widerstand war sie nicht fähig. Es war wie Schweben. Sie wusste nicht, wie viel Zeit verging.    

Streck die Beine aus, Chihiro. 

Sie wusste gar nicht was sie tat oder wie es ihr gelang, doch sie tat es. Zunächst trat sie ins Nichts, bis ihre Schuhspitze den festen Boden ertastete. Und ihr war schleierhaft wie sie es bewerkstelligte, beide Füße auf den Grund zu bekommen, aber es geschah. Das Schwebegefühl ließ nach und sie brachte es fertig, sich irgendwie hinzustellen. Ein seltsamer Lichtschein, der ganz schwach nur erschien, fesselte den letzten Rest ihrer Aufmerksamkeit, die langsam noch in die Dunkelheit entglitt. Er kam aus ihrem Rucksack. Sie löste sich mithilfe des Wassers aus den Trägern und konnte ihn mit den Händen zu sich heranziehen. Es war so unglaublich anstrengend, nicht nachzugeben, die Augen offenzuhalten statt sie zu schließen, wie ihre schweren Lider es verlangten. 

Du musst wach bleiben. Öffne den Rucksack.

Sie konnte die Arme kaum mehr bewegen, von ihren Fingern ganz zu schweigen. Waren sie noch da? Sie fühlte sie fast schon nicht mehr. Sie brauchte mehre Anläufe, ehe sie es fertigbrachte. Es war das Kästchen, das das eigenartige Licht von sich gab. Sie versuchte es zu öffnen, aber es erwies sich als ebenso schwierig wie das Öffnen ihres Rucksacks. Einige Male verlor sie wohl das Bewusstsein, fühlte beinahe überhaupt nichts mehr.

Steck den Ring an, Chihiro. Dann wird alles gut.

Sie öffnete es und schloss die Augen, als das helle Licht sie in der Dunkelheit blendete. Sie zupfte den Ring aus dem vollgesogenen Samtkissen und steckte ihn sich auf den Zeigefinger. Das Leuchten zentrierte sich zu einem Lichtstrahl, eine gerade Linie, die wie die Nadel eines Kompass' in eine Richtung zeigte.

Jetzt folge dem Licht, wies die Stimme sie an.

Ich kann nicht mehr, sprach sie in Gedanken und blinzelte vor Erschöpfung und dem Gefühl des langsamen Sterbens. Alles in ihr wurde seltsam taub. Ich kann mich kaum bewegen.

Im Namen des Windes und des Wassers, die in dir wohnen

Wieder ein Leuchten, jedoch kam es nicht von dem Ring. Es umgab ihre Beine, ihren gesamten Körper mit einer seltsamen Wärme, die die Taubheit ein wenig vertrieb.

Sei frei! 

Ihre Bewegungsversuche mussten armselig wirken. Sie schaffte es ein paar Schritte durch das Wasser zu tun und je weiter sie ging, umso leichter fiel es ihr. Bald wandelte sich ihre dunkle Umgebung in hellere Gefliede, als durchbräche das Licht nach und nach diesen dichten schwarzen Teppich. Sie hatte die Hoffnung schon verloren, das Tageslicht je wieder zu sehen, je wieder Luft in ihren Lungen und den Wind auf der Haut zu spüren. Aber da war er plötzlich. Sie kam mit dem Kopf voran aus dem Wasser, rang nach Atem und wurde vom Schwindel übermannt, den der Sauerstoffmangel unweigerlich in ihr auslöste. Wie eine Lawine breitete er sich in ihrem Kopf aus, bis alles erneut Schwarz wurde. Und diesmal blieb es das auch. Keine sanfte Stimme bewahrte sie davor.

Chihiro hatte jegliches Zeitgefühl verloren, als sie langsam das Bewusstsein wiedererlangte. Durch die Erschöpfung fühlte sie sich ziemlich elend; ihre Muskeln schmerzten und ließen nur kleinste Bewegungen in Händen und Füßen zu - ihr restlicher Körper schien wie ausgezehrt, gar bleischwer. Sie zog die Finger an, ertastete Sand und Kieselsteine. Minuten verstrichen, ehe sie die Augen aufschlug und alles daran setzte, sich geistig zu sammeln. Ihr Hirn fühlte sich an wie ein Schwamm, seltsam aufgedunsen und unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Doch sie brauchte ihre Konzentration, denn das Geschehene fraß sich in ihr Gedächtnis wie Säure in Styropor. Chihiro nahm sich zusammen und brachte es fertig, sich auf alle Viere zu stemmen. Ihre Knie und Handflächen im Sand hielten sie aufrecht, erlaubten ihr ein paar tiefe Atemzüge und einen Blick in ihr Umfeld. Sie befand sich wohl am Ufer des Sees, doch war sie umgeben von morgendlichem Dunst, der ihr die Sicht in Richtung Feld und Straße versperrte. Ein kurioser Duft umgab sie, der nur schwer zu benennen war. Eine Mischung aus Minze und Zitrone, untermalen von... es roch wie Schwefel und nach etwas Anderem. Der Duft benebelte ihr das Hirn, machte es ihr unmöglich, sich zusammenzureißen und geradeaus zu denken. "Was zum Teufel...", murmelte sie trunken von dem Geruch und blinzelte gegen das Schwindelgefühl an, das augenblicklich wieder einsetzte. "Wo bist du?", rief sie laut und hob den Kopf, suchend nach demjenigen, der ihr bislang nur als eine Stimme erschien. Die Antwort blieb er ihr schuldig. "Komm schon", ermutigte sie sich und setzte einen Fuß auf, um aufzustehen. Aber als es ihr gelungen war, sank der Fuß plötzlich ein und wurde bis zum Knöchel von Schlamm verschluckt. Sie versuchte ihn freizubekommen, dabei sank sie dann mit dem anderen Schuh ein und verlor das Gleichgewicht. Chihiro fiel vornüber und fing sich mit den Armen an einem Baum ab, zog sich kräftig daran aus dem Schlamm und rannte über das Feld, das einem Sumpf gewichen war. Sie konnte sich nicht entsinnen, dass es um den See herum jemals so ausgesehen hatte. Die Bäume waren andere - keine Eichen und Eschen wie zuhause, sondern knorrige alte Bäume, die nichts von dem lebendigen Sommer an sich hatten. Graue Wolken kündigten ein Unwetter an und ließen nur wenig Licht hindurch. "Das ist doch jetzt nicht wahr!" Chihiro fühlte, wie die Angst erneut in ihr aufstieg und sie rannte weiter in dem Versuch, die Straße zu finden. "Wo ist sie denn? Wo ist die verdammte Straße?", schrie sie nun fast. Der sumpfige Boden verlor sich in fester Erde. Der Wald war kein Wald, mehr nur ein paar Bäume, die den Sumpf umgaben. Eine weite Wiese kündete von flachem Grünland, keine Spur von den Hügeln ihres Zuhauses.

"Wo bin ich nur..." Ihre Stimme war zu einem heiseren Quicken geworden. Wieder stiegen ihr Tränen in die Augen und sie hockte sich hin, schlang die Arme um sich und rang um Fassung. "Das ist doch nicht wahr! Nicht schon wieder!"

Nicht schon wieder.

 Wie kam sie nur darauf...

Spirited. Always.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt