Ihre Gedanken überschlugen sich wie fallende Dominosteine: Dann wird Haku sterben. Er kann nicht in seine Welt zurück, weil sein Gegenstück seit Jahren nicht mehr existiert, seit der Fluss in meiner Welt trockengelegt wurde. Es gibt nichts, was ihn dort hält, und nichts, was ihn noch ans Zauberland bindet. Der Vertrag mit Yubaba hat ihm seine Seele bewahrt, aber mit der Auflösung ist dieser Schutz verschwunden. Haku ist seither Freiwild. Er lebt nur noch, weil die Novizen ihn über Jahre hinweg nicht zu fassen bekommen haben. So lange, bis...
Ich bin schuld, dass sie ihn erwischt haben, flüsterte es in ihrem Kopf und sie schlug die Hände vors Gesicht. "Kamaji, sie werden ihn töten, wenn wir nichts unternehmen!"
"Ich weiß", sagte er und legte zwei seiner Hände auf ihre Schultern. "Du darfst jetzt nicht verzweifeln, Chihiro. Du bist vielleicht die letzte Chance, die dem Jungen bleibt."
Sie hob den Kopf und drängte den Kloß in ihrem Hals zurück. "Aber was kann ich denn tun? Was? Sag es mir! Denn egal, was ich mache, ich drehe mich im Kreis. Ich mache immer wieder die gleichen dämlichen Fehler und lerne anscheinend nichts dazu."
Der Griff um ihre Schultern wurde so fest, dass es schmerzte, und Kamaji erwiderte zornig: "Hör auf mit dem Gejammer, Chihiro! Hör endlich auf, an dir zu zweifeln und hör auf, dich selbst infrage zu stellen! Schau nur wo du stehst und sieh, wer du jetzt bist. Du bist nicht mehr das kleine Kind, das in meinen Heizungskeller getrampelt ist. Schon damals hast du dieses Land als jemand anderer verlassen. Mutig. Hoffnungsvoll. Und wenn du verdammt noch mal verhindern willst, was Haku jetzt droht, sind Mut und Hoffnung die Kräfte, aus denen du schöpfen musst. Du hast Macht, Chihiro. Und du hast jetzt das Werkzeug, diese Macht einzusetzen und zu lenken. Also nutze sie, ehe es für deinen Drachen zu spät ist!"
Verwirrt blickte sie ihm von einem Auge zum anderen. "Werkzeug? Ich verstehe nicht, Kamaji. Ich bin ein Mensch, welche Macht soll ich denn schon einsetzen?"
"Mach die Augen auf!", sagte er und ergriff ihre Hand. Die glatte Oberfläche des Steins ihres Ringes schimmerte im rotorangenen Schein des Ofenfeuers. "Willst du mir etwa erzählen, dass du damit noch nie etwas bewirkt hast? Wenn ich zu meiner Zeit bei den Novizen je so einen machtvollen Gegenstand in meinem Besitz gehabt hätte, wäre ich nicht so ein miserabler Magier gewesen und hätte -"
"Stopp!", unterbrach sie ihn mit aufgerissenen Augen. "Du warst ein Novize?!"
Er kam ihr ein Stück weit näher, bis sein Gesicht kurz vor ihrem schwebte, und flüsterte: "Was dachtest du, woher ich so viel weiß? Ja, ich war in meiner Jugend ein Novize, aber ein schlechter Schüler. Meine Magie war nie sehr stark und deshalb habe ich das Kloster verlassen. Meine Kenntnisse in Sachen Kräuterkunde haben mich hierher geführt, aber ich habe nie vergessen, was ich über Magie gelernt habe. Und deshalb sage ich dir jetzt, dass du diesen Ring benutzen musst, Chihiro. Er kanalisiert deine Kraft und wenn du dich konzentrierst, sie auf etwas richtest, vermagst du zu tun, was getan werden muss." Ihr schwirrte der Kopf. Kamaji hatte recht. Was hatte sie nicht schon getan, wenn sie in Not war? Der Ring hatte sie beim durchschreiten des Portals vor dem Ertrinken bewahrt. Als ihre Zweifel um Haku's Zustand Überhand nahmen, zeigte ihr der Ring die Veränderung in seinem Körper auf. Nach ihrer Ankunft bei Zeniba, als Chihiro Haku zur Rede stellen wollte und er in den Rausch der Bestie verfallen war, hatte die Kraft des Rings gewirkt und Haku wieder menschliche Gestalt annehmen lassen. Selbst Saya hatte festgestellt, dass Chihiro's Signatur durch den Zauber überall an seinem Körper gehaftet hatte.
"Aber der Ring ist ein Füllgefäß für Magie, hat man mir erzählt. Und Menschen besitzen einfach keine Zauberkräfte", erinnerte sie sich an Saya's Worte.
"Der Ring speichert Magie, das ist wahr. Er verbindet sie mit einem Teil deiner Selbst, denn jeder Zauber fordert diesen Preis. Sag, ist dir denn nie der Gedanke gekommen, dass du weitaus mehr Macht in dir trägst? Du bist so eng mit dem Göttlichen in Kontakt gewesen, Chihiro. Schon in frühester Kindheit."
Vor ihrem inneren Auge tauchten Szenen auf, die sie daran erinnerten. Wie sie an einem Fluss gespielt und bunte Fische beobachtet hatte. Sie hatte sich zu weit über den Stein gebeugt, auf dem sie gekauert hatte, und war abgerutscht und ins strömende Wasser hineingefallen. Im Gegensatz zu ihr war der Turnschuh, den sie verloren hatte, nie ans Ufer getragen worden. "Haku hat mich vor dem Ertrinken gerettet, als ich klein war. Meinst du das etwa?"
"Aha", lächelte Kamaji, "wusste ich es doch! Haku hat dich schon damals markiert, Chihiro."
"Mich markiert?", fragte sie überrascht. "Ich meine, mir ist klar, dass wir eine so... tiefe Verbindung zueinander haben, dass ich ihn selbst in meiner Welt in meinem Kopf sprechen hörte. Er war in meinen Träumen. Er war immer irgendwie anwesend, verstehst du? Nur habe ich es erst begreifen können, als ich wieder hierher kam. Es war Haku, der mich zurück ins Zauberland geführt hat. Ja, weil er mich braucht."
"Haku hat einen Teil von sich lange schon an dich verloren. Die Frage ist, Chihiro", sagte er und kehrte an seinen Arbeitsplatz zurück, "was du mit diesem Teil nun anzustellen gedenkst."
Eine Weile sagte Chihiro gar nichts. Sie wusste, was sie wollte, nur stelle sich die Frage nach dem Wie. Sie wusste, dass sie gehört hatte, was sie hatte hören müssen, und nun kam die Zeit zu gehen. Sie musste zu ihm. Schnell. Alles weitere würde sich ergeben, wie es das ja immer irgendwie tat.
"Zuerst einmal", setzte sie mit gesammelten Sinnen an und erhob sich, "brauche praktische Klamotten und etwas Essbares."
"Du weißt ja, wo du alles findest. Übrigens sehr clever, der Einfall mit dem Fuchsgeist da an deiner Hand."
Fuchsgeist? Oh Mann, den hab ich ja völlig vergessen.
Sie ließ sich nichts anmerken und räusperte sich. "Findest du?"
"Faule Biester. Dass du hierher kommen wolltest, kam dem Kleinen gerade recht. Und er überdeckt deinen Menschengeruch perfekt. In deiner Welt nennt man das glaube ich Win-Win-Situation, oder?"
Aha, daher weht der Wind, du Frechdachs. Sie betrachtete den Armreif, der an ihrem Handgelenk ruhte.
"Nimm nur die Personalgänge auf der Ostseite des Hauses. Wenn du dich beeilst, bekommst du in einer Stunde eine Mitfahrgelegenheit zum Kloster."
Chihiro hatte sich schon zum Gehen abgewandt, darauf bedacht, keine weitere Zeit einfach verstreichen zu lassen, doch hellhörig drehte sie sich nochmals zu Kamaji.
"Ich bekomme eine neue Lieferung spezieller Extrakte vom Kloster. Wenn du in einer Stunde wieder hier bist, schleuse ich dich hinein und du bist bis zum Morgen im Kloster. Und Chihiro"
"Ja?", sagte sie, während sie sich an der Luke zu schaffen machte, durch die Linn immer hereingekommen war, um Kamaji seine Mahlzeiten zu bringen.
"Zu deinem Besten wünsche dir, dass es das letzte Mal war, dass wir uns sehen. Jedes Wesen gehört in seine Welt, Menschen wie Götter."
Sie nickte daraufhin nur und verschwand in dem schmalen Schacht, der zu den Gängen des Personals führte.
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Spirited. Always.
FanfictionNie hätte Chihiro geglaubt, dass ihre Träume in Wahrheit Erinnerungen an eine Vergangenheit sind, in der sie sich mit alten Hexen, Verzauberungen und Gottheiten hatte herumschlagen müssen. Aber alles war real gewesen - ER war real. Obwohl Chihiro ih...