Von Jägern und Gejagten

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"Wir stürmen das Haus", erklärte Teban und überprüfte die Schnürung seiner ledernen Unterarmschienen. "Der verdammte Drache wird diesmal nicht entkommen."

"Er ist nicht verdammt", entgegnete Saya selbstvergessen und blickte hin und her zwischen ihren Begleitern, die sich auf den Kampf gefasst machten, und dem Haus, das nicht weit von ihnen entfernt lag. Saya konnte es genau zwischen den Bäumen ausmachen, es waren kaum sechshundert Meter.

"Ach nein?!" Teban musterte sie herausfordernd. "Du hast die Geduld des Rats mit deinen Halbwahrheiten schon genug auf die Probe gestellt, Saya. Es wundert mich ohnehin, dass sie dich trotz deines beeinträchtigten Zustands mit uns geschickt haben. Wenn du also nicht völlig hinter uns stehst, dann bleib hier zurück und lass uns das erledigen!"

Saya haderte mit sich. Sie wusste, dass es ihm vollkommen Ernst war, und sie spielte tatsächlich mit dem Gedanken, sich herauszuhalten. Obwohl Hora sich sehr dafür eingesetzt hatte, dass Saya Teil des Teams blieb, widerstrebte es ihr, ihre Kameraden dabei zu unterstützen den Drachen dingfest zu machen. Das war das Ziel der Unternehmung, und Saya's Hauptaufgabe bestand darin, für Chihiro's Unversehrtheit Sorge zu tragen. Natürlich hatte Hora längst erkannt, dass für das Mädchen keine akute Gefahr durch die Nähe zu ihrem Drachenfreund bestand. Er hatte aber den Rat aber nicht überzeugen können, dass der Drache auch für andere keine Gefahr darstellte. Lebhaft erinnerte sie sich an die stundenlange Sitzung, die abgehalten wurde und in der Äußerungen gefallen waren, derer Saya sich geschämt hätte, wären sie ihr auch nur in den Sinn gekommen. Sie bereute nicht, dass sie sich in die Ratskammer eingeschlichen hatte um all dem zu lauschen. Im Grunde hatte sie den Ausgang der Sitzung ja kommen sehen, aber sie war dennoch verblüfft, dass selbst so angesehene und für gewöhnlich recht noble Ordensbrüder die Fassung verloren, wenn erst einer von ihnen der Wut und der Furcht nachgab. Anfangs hatten sie noch seriös debattiert, hatten einander zugehört und sogar sachliche Argumente hervorgebracht.

"Er ist außer Kontrolle", hatten einige Ratsmitglieder festgehalten. "Ein dummer Junge, der sich in schwarzer Magie versucht - das kann ja nicht gut ausgehen!"

"Die Zeichnung des Körpers ist nur der Anfang von viel Schlimmerem als bloßem Kontrollverlust!", beharrte einer der Brüder, den Saya ohnehin nicht ausstehen konnte. "Wenn wir ihn nicht in Gewahrsam nehmen, stellt er nicht nur für sich selbst eine Bedrohung dar. Ich habe schon oft genug miterlebt, dass Schüler der Zauberkunst dem Rausch der Macht verfallen. Dass sie sich in Wesen verwandeln, die den Göttern in ihrem Sinnbild ebenbürtig erscheinen und somit ihren Zorn wecken!"

"Wir wissen nicht, ob es damit etwas auf sich hat, Bruder. Das sind doch alles nur Mutmaßungen", wandte Hora vernünftig ein.

"Wenn der Drache dem Rausch verfallen ist, ist es ohnehin unsere Pflicht, ihn zu retten", sprach ein Anderer.

"Was immer es mit dem Zustand des Drachen auf sich hat; wir können nicht zulassen, dass er eine derartige Gefahr darstellt. Er hat bereits das Kloster angegriffen und erheblichen Schaden angerichtet. Uns bleibt in dieser Angelegenheit kaum eine Wahl."

"Er muss hergeschafft und untersucht werden", meinte einer der Brüder. "Vielleicht können wir sogar mit ihm sprechen. Doch wir können es keinesfalls verantworten, wenn er in seinem Zustand weiterhin frei durch die Welt streift - er gefährdet das Gleichgewicht, das wir zu wahren verpflichtet sind!"

Und gegenüber dem war Hora ziemlich machtlos gewesen, denn dieses Argument hatte letztendlich auch die restlichen überzeugt, die bis dahin noch nicht der Ansicht waren, man müsse eine regelrechte Jagd veranlassen. Um Chihiro hatte sich dabei kaum jemand Gedanken gemacht. Sie war nur ein unbedeutender Mensch, der in diese Geschichte hineingerutscht war, meinten sie geschlossen. Nach der Sitzung dann hatte Hora sich an Saya gewandt - er hatte gewusst, dass sie gelauscht hatte, und war ihr ausnahmsweise auch nicht böse. Er begrüßte es sogar, denn Saya genoss sein vollstes Vertrauen. "Du bist so wunderbar menschlich", hatte er ihr gesagt. "Für gewöhnlich verlieren Novizen diese Eigenschaft im Laufe ihrer Ausbildung, aber du nicht."

Hora hatte geahnt, dass Chihiro nicht tatenlos dabei zusehen würde, wenn Teban und die anderen Novizen den Drachen angreifen würden. Saya sollte Chihiro separieren, bevor sie die Gelegenheit dazu bekäme, sich zwischen die Novizen und den Drachen zu werfen. Das war alles, was Hora mit Zustimmung des Rats bewirken konnte.

"Nun?", fragte Teban gereizt. "Bist du dabei, oder bleibst du hier?"

Saya schnaubte, blickte in die kampfbereite Runde und griff nach ihrem Speer - ihre bevorzugte Waffe, auch wenn sie nicht gedachte, sie heute einzusetzen. Selbstgefälliger Mistkerl, wollte sie ihn anblaffen, sagte aber stattdessen: "Irgendwer muss sich ja um den Menschen kümmern."


Spirited. Always.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt