Sei meine Flügel

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Die Luft war schwer und stickig, als würde sich ein heftiger Sommerregen ankündigen. Der kleine Iltis reckte die Nase in die Luft und stellte sich auf die Hinterpfoten, als erwartete er irgendetwas, von dem Chihiro nichts ahnte.

Ich habe keine Wahl, dachte sie schweren Muts und verdrängte den Ärger, den sie über sich selbst empfand. Haku schwebt in Gefahr und ohne Hilfe komme ich hier unmöglich fort.
Das Wissen, allein nicht's zustande zu bringen, auf andere angewiesen zu sein, nagte hartnäckig an ihrem Selbstwertgefühl. Wie sollte sie jemandem helfen, wenn sie aus eigener Kraft nicht vorwärts kam?
Ich dachte, ich wüsste mittlerweile genug über diese Welt, gestand sie schwermütig, dabei habe ich keine Anhung.
"Hör mal", setzte sie an,"ich muss schnellstens jemanden finden. Wenn du weißt, wie wir von hier wegkommen, dann wäre ich dir für die Mitteilung sehr dankbar."

Der Iltis aber reagierte nicht auf ihre Bitte. Wie erstarrt stand er an der Dachkante und spähte hinaus in den Abend, den Blick auf den endlosen Horizont gerichtet.

Chihiro kam dem kleinen Gott näher und mahnte sich, nicht die Nerven zu verlieren. Sie wusste, dass sie vielleicht zu viel erwartete, aber es fiel ihr nach wie vor nicht leicht zu erkennen, wem sie ihr Vertrauen schenken konnte und vor wem sie sich lieber in acht nahm. Wenn sie sich an ihren ersten Besuch im Zauberland zurückerinnerte, fiel ihr auf, dass sie den Fremden stets mit unverblümter Offenheit entgegengetreten war, untermalen von ihrem regen Temperament. Sie hatte sich im Grunde nicht darum geschert, wer ihren Weg kreuzte, und alles hingenommen, was auf sie zukam. Diesmal war es anders. Vielleicht, weil sie selbst jetzt eine Andere war.

Ihre Gedanken wurden von einem Geräusch unterbrochen, das an einen plätschernden Fluss erinnerte, begleitet vom ruhigen Rauschen des Meeres. Es wurde zunehmend lauter, bis das anfängliche Plätschern zu einem Tosen wurde. Es klang, als würden kräftige Wellen hart gegen Felsen branden, nur konnte Chihiro etwas derartiges nirgends ausmachen.

"Was geht hier vor?", fragte sie laut und ging weiter an die Kante heran, bis sie unmittelbar neben dem Iltis stand, der noch immer gebannt den Blick nach vorn richtete. "Was ist das?"

Der Iltis gab ein Gurren von sich und ehe Chihiro zu irgendeiner Reaktion fähig war, sprang der Kleine erneut auf sie zu. Sein langer, felliger Körper verschwamm im Sprung, verzerrte sich und breitete sich der Länge nach aus, als würde ein orangeroter Lichtblitz durch die Luft sirren. Es geschah in Sekundenschnelle, dass dieser feurige Blitz zu ihrem Arm schoss und sich darum wand, seine Beschaffenheit veränderte und zu einem breiten Armreif wurde. Chihiro starrte wie gebannt darauf und in ihrer Konzentration konnte sie den raschen Herzschlag des Iltis' spüren, der sich durch den Reif an ihrer Haut bemerkbar machte.
Das Tosen um sie herum schwoll mehr und mehr an und durch Chihiro ging ein seltsamer Ruck, als zöge sie etwas Unsichtbares am Handgelenk. Es musste der Iltis sein, keine Frage. Er zog sie vorwärts, unfassbar nahe an die Dachkante heran, wo Chihiro vor Staunen der Mund offen stehen blieb.
Sie streckte den Arm aus und empfand das Prasseln wie hunderte Nadelstiche auf der Haut. Es regnete. Doch nicht vom Himmel.
Tropfen lösten sich aus dem glitzernden Meer, stiegen auf und trotzten den physikalischen Gesetzen der Schwerkraft. Es war, als würde es von der Erde zum Himmel regnen.
"So etwas gibt es einfach nicht", wisperte sie völlig eingenommen. Zu spät reagierte Chihiro, als der Iltis an ihrem Handgelenk sie ruckartig nach vorn zog, über die Dachkante hinweg in diesen mystischen Regenschwall.
Chihiro kreischte, als sie ins Leere trat und so schwer wie der sprichwörtliche nasse Sack an dem Armreif hing, der sich fliegend in der Luft hielt. Sie versuchte sich hochzuziehen und nach der Dachkante zu greifen, nur rutschten ihre Finger immer wieder ab und ihre Beine waren bereits durchnässt vom aufsteigenden Wasser.
Himmel, was kommt denn bitte als nächstes?!, fragte sie sich verzweifelt und griff immer wieder nach dem Dach.
Eine Bild zog an ihrem geistigen Auge vorbei: Ein plätschernder Bach bei Tag, über Nacht schon verwandelt in ein weites Meer. Ein Mädchen, dessen Körper sich langsam auflöste, saß an seinem Ufer und verstand die Welt nicht mehr. "Es ist nur ein Traum. Nur ein böser Traum. Geh weg! Geht alle weg!"
Sie dachte an damals, an ihre Bestürzung und die Unfassbarkeit, die sie empfunden hatte. War es denn möglich?
Das Meer wird wieder zum Fluss...
"Ist es dasselbe Meer, das zum Badehaus fließt? Das, durch das der Zug fährt?", rief sie zu ihrem Begleiter und ließ vom Dach ab, während die Erkenntnis glühend heiß in ihr aufflammte. "Ich muss dorthin, hörst du? Bitte, lass mich runter! Ich verstehe es jetzt!"
Und plötzlich, als hätte man ein Seil durchgeschnitten, stürzte Chihiro in Richtung Meeresoberfläche. Ihr blieb diesmal keine Zeit zu schreien und sie strampelte mit den Beinen in der Luft, als würde sie den Sturz dadurch abfedern können.
Doch sie traf nicht auf, denn unter ihren Füßen verfestigten sich die Topfen, als stünde sie auf einem Wasserbett. Kurzatmig strauchelte sie voran, doch sobald sie zu stehen versuchte, trat ihr Fuß ins Leere und sie drohte, in die Wellen weit unter sich abzustürzen. Es war, als würde man durch endlosen Zuckersand waten und einsinken, sobald man zum Stehen kam.
Chihiro nahm zunächst gar nicht wahr, dass der Ring, der nach wie vor an ihrem Zeigefinger steckte, zu vibrieren begonnen hatte und in einem strahlenden Aquamarinblau aufleuchtete.
Taumelnd setzte sie immer wieder rasch einen Fuß vor den anderen, die Arme von sich gestreckt, um irgendwie die Balance zu halten. Augenblicklich löste sich der Halt unter ihren Füßen auf, sobald sie anhielt.
Der Ring vibrierte stärker und schien sie in eine bestimmte Richtung lenken zu wollen. Das Gefühl, das daraufhin ihre Angst überschattete, hatte etwas unglaublich Tröstendes an sich; sie konnte es riechen, den Wind und das Meer, konnte es förmlich auf der Zuge schmecken - seine Aura, erfüllt von Trost und Zuversicht, die die ihre in eiwm Akt des Vertrauens berührte.
Bleib bei mir, flehte sie inständig und schöpfte Mut. Haku, bleib bei mir!

Chihiro kämpfte gegen die Erschöpfung an. Diese Art der Fortbewegung war anstrengender als alles, was sie bisher in ihrem Leben getan hatte (nicht einmal die sechsstündige Klettertour, die ihre Eltern mit ihr gemacht hatten, konnte da mithalten). Ihre Muskeln in den Beinen verkrampften sich immer wieder, doch Chihiro konnte es sich nicht erlauben, anzuhalten. Wann immer sie stoppte, verlor sie an Höhe und kam dem Meer näher (mittlerweile fehlte nicht mehr viel und sie würde schwimmen müssen).
Es kostete Chihiro eine Menge Willenskraft, um nicht aufzugeben und immer weiter zu gehen. Sie hüpfte dann und wann vorwärts, um ihre Muskeln etwas zu lockern, blieb aber stetig in Bewegung.
Die Sonne war schon lange untergegangen und der Mond sandte sein kühles Silberlicht durch den sich verdunkelnden Himmel. Chihiro versuchte, nicht nach unten zu blicken, denn der Regen hörte nicht auf. Es war seltsam, wenn Regen einem auf diese Art und Weise zu schaffen machte. Dass sie ein Kleid trug vereinfachte es nicht sonderlich. Sie fragte sich, wie lange es dauerte, bis das Meer zum Fluss würde.
Konzentration war in diesem Augenblick rares Gut, ihr Kopf schmerzte bereits. Wie lange war sie schon gelaufen? Es mussten Stunden sein.
Mit der Zeit wurde der Regen unter ihr schwächer. Was als Tosen begonnen hatte wurde zu einem sachten Töpfeln, je höher die Sonne stieg. Aber letztlich verstummte auch dieses.
Chihiro hatte keinen Halt mehr unter den Füßen, als der Regen verschwand. Sie fiel hinab in das, was von dem einst prächtigen Meer noch zurückgeblieben war: ein schmaler Bach, keine fünf Meter breit. Unsanft fiel sie auf die flachen Steine, die im Wasser unter ihr lagen, und schleppte sich ans Ufer. Wobei man nicht wirklich von einem Ufer sprechen konnte. Auch hier lagen Steine, die das Gewässer säumten. Jenseits erstreckte sich eine weite, taufeuchte Graslandschaft, ab und an von Fels durchzogen. Chihiro kroch dorthin und blieb im Gras liegen, völlig durchnässt und mit schmerzenden Beinen. Etwas Rotes kreuzte ihren Blick, aber die Erschöpfung war einfach übermächtig. Ihr fehlte jede Energie, um wach zu bleiben.

Spirited. Always.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt