Der unendliche Fluss (3/3)

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Der Körper des Drachen war das Spielfeld, auf dem sich Gott und Dämon in ihrer reinsten Form gegenüberstanden. Die Gestalt eines pechschwarzen Tigers und die eines weißen Drachen, dem der blaugrüne Schimmer einer menschlichen Seele anhaftete.

Du willst spielen, Jungchen?, spottete der Dämon und bleckte die Zähne.

Haku verharrte reglos, fühlte zweifellos, wie Chihiro in seinem Innersten zuckte. Doch keine Furcht, kein Zweifel ließ ihn auch nur einen Schritt zurückweichen. Er war so erregt wie seit langem nicht mehr.

Der Dämon wartete nicht länger auf eine Erwiderung und verzog die Fratze zu einem kaltblütigen Grinsen. Seine Gestalt wuchs, nahm immer mehr Raum ein, bis sie Haku erreichte und versuchte, ihn wieder zurückzudrängen, ihm seinen angeblichen Platz zu zeigen: Eine kleine, dunkle Ecke, die ihn irgendwann gänzlich verschlucken würde, sobald er jeden Widerstand aufgab.

Haku's Brust schwoll an, als er sich gegen den Dämon stemmte und spürte, wie Chihiro ihm zuhilfe kommen wollte. Nicht, wies er sie scharf zurecht.

In seinem Inneren vibrierte ihre Kraft, mehr als nur bereit in ihn überzugehen, wenn er sie brauchte.

Haku ließ sich nicht beirren und kämpfte gegen den enormen Druck seines Gegners an. Es erinnerte Chihiro stark an einen Ringkampf, bei dem der Sieger derjenige war, der als letzter noch auf der Matte stand.

Haku's Gestalt leuchtete in Tönen aus Weis, Blau und Dunkelgrün, so glühend wie das pure Leben. Der Dämon bildete das finstere Gegenstück, in dem keine Farbe, kein Leuchten Platz fand.

Du hast es dir viel zu bequem gemacht, brummte Haku, damit ist jetzt Schluss.

In den weißen Augen des Dämons funkelte es düster. Wer will mich zwingen? Du? Dein Menschlein?

Haku knurrte aus tiefster Kehle und schob den Dämon mit einem kräftigen Ruck zurück.

So herrlich, ihre hübschen Schreie, prahlte er und drängte Haku wieder ein Stück zurück. Ich werde sie bald wieder hören! 
Mit einem Hieb seines Schweifs schlug Haku nach dem Dämon, mit dem er verkeilt war, doch der ließ sich nicht davon abbringen, ihn weiter zurückzudrängen. 

Ja, ja, schlag nur zu! Schlag zu!

Haku nahm seine Kraft zusammen und spürte, dass Chihiro ihm den Rücken stärkte. Sie konnte fühlen, wie knapp dieses Kräftemessen in Wirklichkeit war. Sie war ein Teil von ihm geworden.

Du bist nicht mehr allein, sprach Chihiro, sodass nur er es hören konnte. Ihre sanfte Stimme war von Stolz und Zuversicht erfüllt, trotz des leichten Drängens ihrer Kraft, die sie ihm bereitwillig überlassen würde.

Der Dämon gab einen Laut von sich, der einem Lachen gleichkam, und warf sich mit seiner Macht gegen Haku. Ihre Auren verschwammen an den Rändern, schienen leicht ineinander überzugehen wie die verlaufenden Farben auf einer Mischpalette.

Du bist in mir, sprach Haku, mehr zu sich selbst als zu Chihiro. Du bist bei mir.

Mehr brauchte er nicht. Jahrelang hatte er durchgehalten, aus eigener Kraft. Nun war sie hier, war seinem Ruf rückhaltlos gefolgt und hatte in grausamer Ironie des Rätsels Lösung gefunden, wofür er zu blind, zu ignorant war. Und sie hatte ihn gerettet, wie nur sie es vermochte.

Das. Ist. Mein. Körper.

Jedes Wort betonend sammelte er seine Macht, ließ sie zusammenfließen und fühlte, wie Chihiro sich auffordernd an ihm rieb. Er würde halten, was er versprochen hatte. 

Der Dämon brüllte und warf sich mit all seiner Kraft erneut gegen den Drachen, doch eisern blieb er, wo er war, wich keinen Schritt zurück.

Du hast nicht die Stärke eines wahren Gottes, Bürschchen!, rief der Dämon zwischen zusammengepressten Zähnen, spuckte es beinahe hinaus. Gegen mich kommst du nicht an!

Haku stieß in seiner tiefsten, kältesten Tonlage ein Brüllen aus und stemmte sich gegen die schwarze Gestalt, die in ihrem Protest fauchte. Einen Moment lang glaubte Chihiro, Haku würde nachgeben, doch er drängte den Dämon in Richtung des entstandenen Risses, der in die dunkle Dimension führte.
Haku zuckte und Chihiro fühlte den Schmerz, bevor Haku es verhindern konnte. Ein grausames Stechen, als das Biest ihn ansprang, statt ihn fortzudrücken, ein Brennen an Haku's Flanke, als die Klauen des schwarzen Tigers sich hineingruben. Dann biss das Biest ihn in den Hals, so fest, dass Chihiro das Blut in Strömen fließen sah. Haku's Schrei klang so unendlich gequält, so schmerzerfüllt. Chihiro fühlte es, das schreckliche Brennen, wo die Zähne eingedrungen waren. Es war, als würde es sich in seinem Inneren ausbreiten und ihn in Brand setzen.
Es dauerte, ehe Chihiro bemerkte, dass auch sie schrie.

Ein schöner Gesang, lachte der Dämon und grinste boshaft, wobei ihm Blut aus den Mundwinkeln rann. Mein liebstes  Duett!

Haku, hauchte Chihiro mit zitternder Stimme.

Er brauchte einen Moment, um sich zu sammeln, da spürte Chihiro bereits, wie der Schmerz nachließ. Haku zog die Mauer wieder hoch, die sein Empfinden von dem ihren trennte.

Lass es!, zischte sie und hätte ihm am liebsten eine verpasst, dafür, dass er seine Energie derartig verschwendete, um sie zu schonen.

Haku beachtete sie kaum, kauerte sich hin und war bereit, auf den Dämon loszugehen. Haku aber sprang nicht, wie Chihiro geglaubt hatte. Er verharrte, jeder Muskel in seinem Körper zum Bersten gespannt.

Los, Jungchen. Komm und spiel!

Haku neigte den Kopf, fixierte den Dämon mit seinem Blick.

Feigling, spie der Dämon und begann hin und her zu springen, von links nach rechts zu tigern, ohne Haku aus den Augen zu lassen. Er sprühte vor Energie, vor Kraft. War gespannt wie ein Boxer, der ganz heiß auf die nächste Runde war.

Er will es, erkannte Chihiro. Er will, dass du angreifst.

Haku ging nicht darauf ein. Er hob langsam den Kopf und stellte sich breitbeinig vor die Bestie, füllte seinen Brustkorb mit Luft und blendete die klaffenden Wunden aus, die ihm höllische Schmerzen bereiten mussten.

Feigling!

Haku ließ die Provokation kalt. Er wurde innerlich ruhig, so ruhig, dass selbst Chihiro den Atem anhielt. Und dann hörte sie es.

Das Rauschen des Windes.

Brandende Wellen.

In diesem Moment teilte Haku seine Gedanken mit ihr. Er ließ sie sehen, was er längst erkannt hatte: Haku besaß einen Willen wie kein anderer Gott. Er wusste, wer er war, wusste, wozu nur er fähig war...

Im Namen des Windes, der mein Herz erfüllt. Im Namen des Wassers, das meine Seele trägt, sprach Haku. Im Namen derer, die ich auf ewig beschütze...

Chihiro schnappte nach Luft, als sie die tiefe Magie spürte, so alt wie die Zeit selbst. Kein Zittern, keine Schwäche - als wäre etwas erwacht, das schon immer da gewesen war.
Denn Haku selbst war es, der zum Meer wurde. Seine feste Drachengestalt löste sich auf, zerfiel abrupt und ohne Vorwarnung in eine wahrhaftige, gewaltige Wasserwelle, die der Finsternis entgegenschlug. Chihiros ganzes Sein vibrierte, als alles um sie herum in feinste Wassertropfen zerfiel. Tropfen, die sich unfassbar schnell zu einem Strom verbanden, zu einer reißenden Welle wurden. Chihiro wurde Teil von ihr, fühlte, wie auch sie zu Wasser wurde und wie ihre Kraft darin überging.
Unbarmherzig entströmte sie in die Dunkelheit und hielt auf den schwarzen Tiger zu, dessen Fratze sich veränderte. Aus dem höhnischen Grinsen wurde ein Ausdruck, der nichts preisgab. Er gab keinen Laut von sich, als die Welle ihn überrollte und in einen Wasserkokon einschloss. Haku war unerbittlich, ließ den Dämon trotz seiner kläglichen Versuche nicht entkommen und umschlang ihn mit wirbelnden Wasserströmen, gefangenen in seinem eigenen, reißenden Käfig.

... verschwinde.

Wie ein Puzzle, dessen letztes Teil gefehlt hatte, vervollständigte sich der Zauber. Haku umschloss den Dämon fester, bis er sich kein Stück mehr rühren konnte. Seine schwarzen Umrisse wurden immer schemenhafter, verblichen wie schwarze Tinte auf Papier, das zu lange dem Licht ausgesetzt war.
Chihiro spürte den schwindenden Widerstand, den nachlassenden Gegendruck des Biests.
So lange, bis es sich ganz aufgelöst hatte und Chihiro nichts mehr als weißes Leuchten wahrnahm.
Sie war Wasser.
Sie war Luft.
Sie war nichts.

Spirited. Always.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt