Entkommen

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Zeniba entrümpelte einen Bereich in ihrem Haus, der Chihiro niemals aufgefallen wäre. Hinter dem Regal - das Chihiro für ein Gewürzregal gehalten hatte - befand sich ein Safe, der in die Wand eingelassen war. Zeniba öffnete ihn und kletterte hinein, was ihr trotz ihres recht unproportionalen Körpers scheinbar mühelos gelang. Wenig später gesellte sie sich wieder zu ihnen und reichte Chihiro einen Kleiderkarton. "Ihr werdet eine angemessene Garderobe brauchen", sagte sie dazu nur und hob den Deckel gerade weit genug an, um die Einladung und das Kästchen mit dem Gegenmittel darin verschwinden zu lassen. "Ihr solltet jetzt aufbrechen, wenn ihr es rechtzeitig schaffen wollt."

Haku nickte und richtete seinen Blick auf den Karton. Er war so fokussiert, dass Chihiro mit irgendeiner Reaktion rechnete, doch einige Sekunden lang geschah gar nicht's, Dann aber begann der Karton zu schrumpfen, immer weiter, bis er gerade so groß war, dass er in Chihiro's Handfläche passte. Erstaunt schaute sie auf die kleine Schachtel und lächelte begeistert. "Na, den Trick möchte ich auch lernen", dachte sie laut und schob die minimierte Abendausstattung in ihre Hosentasche. Als sie den Blick wieder hob und Zeniba gerade für alles danken wollte, hielt sie inne. Die Hexe richtete ihre gesamte Aufmerksamkeit auf Haku, was Chihiro dazu brachte, ihn ebenfalls anzusehen.

Seine Augen waren geschlossen, so selig wie die Lider eines schlafenden Kindes. Sein Körper aber strotzte nur so vor Energie - es knisterte förmlich in der Luft - und Chihiro beobachtete mit Entsetzen, wie er sich veränderte. Seine Haut schien zu vibrieren, als die Transformation einsetzte; erst an seinen Armen und Beinen, die länger wurden, schmaler, bis hin zu den Finger- und Zehenspitzen. Er schloss die Finger und sie verschmolzen regelrecht, bis sich aus ihnen unförmige Klauen bildeten. Währenddessen veränderte sich auch sein Gesicht: seine Nase flachte rasch ab, Unter- und Oberkiefer brachen aus ihrer menschlichen Form, zogen sich zu einem Maul in die Länge und bildeten meterlange Fühler aus. Auch Haku's Rumpf streckte sich und er fiel auf die nun kaum mehr widerzuerkennenden Knie, die verformten Hände fest auf den Boden gepresst. Sein menschlicher Hals wuchs, reckte sich empor - einem jungen Spross gleichend, der sich in Zeitraffung der Sonne entgegenstreckte und zur Blume erblühte. Und daraufhin geschah alles ganz schnell: seidig weißes Fell überwucherte Haku's Kleidung, Hörner traten aus seinen Schläfen heraus, sein dunkelgrün schimmerndes Haar wuchs und erstreckte sich bald über seinen gesamten Rücken, brach aus der Spitze seines nun ausgebildeten Schweifs hervor. In seiner Drachengestalt stand er nun vor ihr, schaute sie unter herabgesenkten Lidern an.

Erst als sie nach Luft schnappte, bemerkte Chihiro, dass sie den Atem angehalten hatte. Sie wollte etwas sagen, doch ihr kamen keine Worte in den Sinn, die angemessen beschreiben konnten, was gerade in ihr vorging.

Ich weiß, sandte Haku ihr mit dem leisen Anflug eines Lachens zu. Ist wohl kein üblicher Anblick in der Menschenwelt.

Zeniba schnaubte und schien etwas sagen zu wollen, doch abrupt erstarb der Ausdruck auf ihrem Gesicht und wurde so todernst, dass Chihiro sich von Haku's Gestalt losriss und besorgt in Zeniba's Richtung schaute. "Ihr müsst verschwinden", murmelte sie aufgebracht und wandte sich zur Tür. "Sie sind hier."

"Wer ist hier?", fragte Chihiro, die das sich ihr gebotene Schauspiel von Haku's Verwandlung noch nicht verdaut hatte.

Novizen, erklärte Haku kühl, neigte den Kopf und bedeutete Chihiro aufzusteigen, als Zeniba die Tür aufstieß.

"Ich kann euch Zeit verschaffen, aber ihr müsst fliegen. Sofort." Zeniba verließ ihr Haus zuerst und hob die Arme abwehrend vor sich. Ein greller Blitz, so erschien es Chihiro, ging durch den Körper der Hexe und verließ ihn über ihre von sich gestreckten Handflächen. Er breitete sich wie ein blasenartiger Schild aus, preschte über die Wiese vor dem Haus und hinein in die dichten Wälder.

Spirited. Always.Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt