Das sehe ich

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Nachdem Feuerwehr und Polizei lediglich mitgeteilt hatten, dass sie frühestens am nächsten Morgen hier sein und den Baumstamm beseitigen konnten, war die Frustration groß.
Niall leerte das nächste Weinglas in einem Zug, Liam telefonierte mit der Kanzlei, Harry beschäftigte sich mit den Mädchen und Louis dachte darüber nach, wie verdammt beschissen diese Situation eigentlich war.
Er spürte, dass es Niall schlecht ging, dass er litt, und dass er eigentlich nichts weiter wollte, als so schnell wie nur irgendwie möglich wieder nach Hause, und damit weg von Louis zu fahren.
Da das allerdings nicht möglich war, tat er das, was er schon früher gern getan hatte, um zumindest einen Teil des Problems zu schönigen - er betrank sich.
Liam schob dem einen Riegel vor, indem er die Weinflaschen vom Tisch räumte, zusammen mit Louis das Geschirr in die Spülmaschine verfrachtete und Niall dazu verdonnerte, sich auf das Sofa vor den Kamin zu legen und Harry dabei zu zu sehen, wie er ebenfalls vor dem wärmendem Feuer saß und mit den Mädchen ihre Puppen begutachtete.
Die beiden Mädchen waren erschrocken und verängstigt, weil sie nicht verstanden, was vor sich ging. Also hatte Harry ihnen erklärt, dass der Blitz einen Baum kaputt gemacht und auf die Straße geworfen hatte, und sie deswegen warten mussten, bis jemand kam, um ihn dort wegzuschaffen. Natürlich erklärte er ihnen ebenfalls, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchten, selbstverständlich konnte ihnen in ihrer Waldhütte nichts passieren, da diese über Blitzableiter verfügte.
Liam griff nach einem Teller, wusch ihn kurz ab, stellte ihn in die Maschine und sah Louis mitleidig dabei zu, wie er deprimiert ein Glas hineinstellte. „Mach dir nicht so viele Gedanken", versuchte er schließlich, ihn etwas aufzuheitern. „Er wird sich mit Sicherheit wieder beruhigen, wenn du dich bei ihm entschuldigt hast."
Einen Moment lang fragte Louis sich, woher Liam von seinem Vorhaben wusste - dann allerdings wurde ihm wieder klar, dass er mit dem besten Freund von Harry sprach. Natürlich mussten sie miteinander gesprochen haben.
Louis seufzte, während er einen Blick ins Esszimmer, die Treppen hinunter und schließlich zum Kamin warf. Er sah, wie Harry mit den Mädchen spielte, Niall langsam einschlief und die Flammen lodernde Schatten auf sein Gesicht malten.
„Vielleicht solltest du bis morgen damit warten", meinte Liam und sah Louis einen Moment lang an. „Er ist müde, frustriert und er ist betrunken."
Louis seufzte. „Wahrscheinlich hast du Recht", stimmte er dem Anwalt schließlich zu und sah ihn einen Moment lang zweifelnd an. „Ich fühle mich so schrecklich, Liam. Ich weiß nicht, warum ich diese Dinge zu ihm gesagt habe, aber ich fühle mich wirklich verdammt schrecklich."
Liam drückte ihm das nächste Glas in die Hand. „Ich weiß. Und Niall weiß das auch. Aber weißt du, Louis, ich sehe in meinem Beruf täglich Leute, die noch nicht begriffen haben, welche Macht Worte haben können. Sie können eine heilende, aber auch eine mindestens genauso starke, zerstörende Kraft haben. Mein Job ist es, Worte auseinander zu picken und jedes von ihnen auf die Goldwaage zu legen - ich weiß um ihre Kraft und die Dinge, die sie anrichten können. Deine Worte haben ihn unwahrscheinlich verletzt."
Louis dachte einen Moment lang darüber nach, was Liam gesagt hatte. Er hatte Recht - Worte konnten viel wieder gut machen, aber eben auch nicht alles. Schon gar nicht das, was sie vorher zerstört hatten.
Er wusste, dass er Niall tief verletzt hatte, doch das so deutlich von Liam zu hören, machte es ihm doch noch einmal um ein ganzes Stück bewusster.
„Aber ich verurteile dich nicht", setzte Liam hinzu, als er Louis' unsicheren Gesichtsausdruck sah. „Und Niall tut das auch nicht. Er ist kein Mensch, der Bindungen so einfach wegwirft, Louis. Ich denke, er braucht einfach nur die Bestätigung, dass es dir leid tut - eine Entschuldigung, damit er begreifen kann, dass deine Worte nicht so gemeint waren, wie du sie gesagt hast."
„Man kann Gesagtes aber nicht so einfach wieder rückgängig machen", entgegnete Louis und seufzte. „Ich fürchte, damit wird es nicht abgetan sein."
„Er wird mit Sicherheit noch lange darüber nachdenken", antwortete Liam, „Aber er wird dir irgendwann wieder vertrauen können."
Louis nickte. „Ich hoffe es."

*

Etwa eine Stunde später hatten sich alle vier Männer und die beiden Mädchen vor dem Kamin versammelt.
Nachdem Liam und Louis den Abwasch erledigt hatten, hatte Liam seinen Freund vorsichtig geweckt, ihm einen sanften Kuss auf die Wange gedrückt und ihn gebeten, sich zu ihnen vor den Kamin zu setzen, wo sie ein ganzes Lager aus Decken und Kissen ausgebreitet hatten.
Während der Sturm draußen noch immer tobte, kuschelte Louis sich eng an Harry, der sich noch nicht einmal eine der schulterlangen Strähnen aus dem Gesicht streichen konnte, weil Victoria seinen zweiten Arm beanspruchte und sich ebenfalls an ihren Vater kuschelte.
Sie sah Louis einen Moment lang an, grinste und kicherte. „Eigentlich teile ich meinen Daddy mit niemandem."
Harry sah sie entgeistert an, konnte sich das Lachen allerdings nicht verkneifen, das in diesem Moment durch die gesamte Runde ging.
„Aber mit Louis teilst du ihn doch sicher gerne", entgegnete Liam und steckte sich ein Erdnussflip in den Mund.
„Nur ausnahmsweise", antwortete Victoria und warf einen Blick zu Amy, die im Schoß ihres Vaters eingeschlafen war. „Und nur, weil Amy dank ihm jetzt meine Schwester ist."
Louis wurde ganz rot im Gesicht, das Ganze war ihm definitiv unangenehm.
Als er allerdings sah, dass ein erneutes Lachen durch die gesamte Runde ging, musste er ebenfalls kichern.
Kinder konnten eben sagen, was sie sich dachten, ohne dass es für sie weitere Konsequenzen haben würde.
Manchmal wäre er auch gern wieder ein Kind gewesen.
Liam hatte einen Arm um Niall gelegt, ihn dicht an seine Brust gedrückt und die Decke bis zu seiner Nasenspitze nach oben gezogen. Er wusste, dass sein Verlobter sich eigentlich sehr unwohl fühlte und nicht wirklich wusste, wie er mit der Situation umgehen sollte. Aber er wusste auch, dass sich die Spannungen zwischen Niall und Louis wieder legen würden - es war nur eine Frage der Zeit. Schließlich waren sie genauso eng befreundet, wie er selbst mit Harry es war; und wäre eine derartige Sache zwischen ihnen vorgefallen, er war sich sicher, dass sich alles wieder geklärt hätte. Früher oder später.
Trotz allem war er sich durchaus bewusst, dass man eine Freundschaft nicht mit der anderen vergleichen konnte. Jeder Mensch war verschieden, jeder Mensch hatte einen anderen Charakter und andere Werte, andere Vorstellungen von einer Freundschaft und vor allem andere Grenzen.
Doch er kannte Niall's Grenzen. Louis hatte sie zwar überschritten, aber er war Niall einer der wichtigsten Menschen auf diesem Planeten. Bei allen guten Dingen, die er für ihn getan hatte, würde er ihm diese eine schlechte Sache nicht ewig vorhalten.
Doch er brauchte eine Entschuldigung von Louis' Seite. Und die würde er bekommen.
Während Harry eine weitere peinliche Geschichte über Liam's Studentenleben auspackte (Liam hatte sich in einer Vorlesung selbst angekotzt, weil er sie bis acht Uhr morgens in der Wohnung eines Freundes getrunken hatten), verdrehte der Anwalt nur beide Augen und seufzte. „Musst du mich eigentlich immer blamieren?", wollt er scherzend von seinem besten Freund wissen. „Soll ich deine Peinlichkeiten während des Studiums mal auspacken?"
Harry schüttelte den Kopf. „Nein, Danke. Wobei es da auch nicht so viele gab - ich war schließlich ein braver Musterstudent."
Liam lachte  laut auf und tippte sich an die Stirn. „Hörst du dir eigentlich selbst zu?"
„Nein, tut er nicht", meldete sich nun Louis zu Wort, während er den Kopf schüttelte. „Die Geschichte von diesem angeblichen ‚Musterstudenten' darf ich mir fast jeden Tag anhören."
Liam lachte erneut auf. „Tut mir leid, Louis, aber da hat er dich angelogen."
„Das stimmt doch überhaupt nicht!", meldete Harry sich schließlich zu Wort, um sich selbst zu verteidigen. „Ich war in jeder Vorlesung, habe alle Hausarbeiten immer pünktlich abgegeben und musste nie ein Semester wiederholten."
„Ich auch nicht", entgegnete Liam, „Das bedeutet aber noch  lange nicht, dass du nicht mindestens genau so sehr auf den Putz gehauen hast, wie ich."
Der Anwalt verdrehte beide Augen. „Du warst doch derjenige, der seine betrunkenen Bekanntschaften ständig mit nach Hause geschleppt hat, sodass ich die ganze Nacht nicht schlafen konnte."
Harry hätte seine Äußerung am liebsten zurückgenommen, als er Niall's verletzten Blick sah.
Er musste aber auch wirklich jedes Fettnäpfchen mitnehmen.
Liam schien die gleiche Blockade zu haben wie Harry selbst und feuerte zurück: „Im Gegensatz zu dir habe ich mich damit aber immer in mein eigenes Zimmer verzogen. Jane und du hattet da wohl keine genauen Präferenzen, was den Ort anging."
Louis und Niall warfen sich einen Moment lang einen ziemlich irritierten Blick zu, woraufhin auch bei Liam der Knopf aufging und sein Gesicht sich dunkelrot färbte.
Gott sei Dank war auch Victoria mittlerweile eingeschlafen.
Louis räusperte sich und versuchte, die peinliche Stille wieder mit Worten zu füllen. Worten, die er - wie er nun wusste - weise wählen musste. „Während meines Studiums in Frankreich habe ich mich wohl kaum auf etwas anderes konzentriert, als die französische Kultur und meine Bücher."
Niall kicherte. „Ich durfte mir jeden Abend am Telefon endlose Vorträge darüber anhören, wie schön Paris doch ist, und dass er am liebsten gar nicht mehr nach England zurückkommen würde."
Louis lächelte bei der Erinnerung an die vielen Abende, an denen er stundenlang mit Niall gequatscht hatte, weil sie sich kaum noch persönlich treffen konnten.
Niall allerdings senkte seinen Blick; die Äußerung war ihm mehr oder weniger herausgerutscht, ihm ganz automatisch über die Lippen gekommen, weil er es nicht gewohnt war, mit Louis Streit zu haben.

*

Einige Stunden später, als beide Mädchen längst eingeschlafen waren, konnte Harry sich ein Gähnen nicht mehr verkneifen.
Das Feuer war längst heruntergebrannt, weshalb nur noch die Glut im Kamin leise vor sich hin knisterte.
„Lasst uns schlafen gehen", schlug Harry schließlich vor und warf einen fragenden Blick in die Runde. „Morgen wird ein anstrengender Tag."
Liam nickte. „Vermutlich hast du Recht."
Auch Niall hielt sich eine Hand vor den Mund und gähnte. „Ich hoffe, das wird morgen nicht allzu lange dauern."
Harry seufzte. „Das hoffe ich auch."
„Wenn ich zu dieser Verhandlung zu spät auftauche, bringt man mich um", erklärte Liam, und Harry konnte an seiner Stimme hören, dass das kein Witz war.
„Ich werde dafür sorgen, dass die Feuerwehr so schnell wie möglich hier ist", versprach er seinem besten Freund deshalb und lächelte ihn aufmunternd an.
Obwohl Liam die Bemühungen seines besten Freundes schätzte, überzeugten dessen Worte ihn nicht zu hundert Prozent. Er wusste, dass Harry alle Hebel in Bewegung setzen würde, um diesen Baumstamm aus dem Weg zu schaffen - aber wenn die Feuerwehr nicht früh genug auftauchte, würde auch er nichts machen können.

*

Harry und Louis hatten sich unter der dicken Daunendecke eng aneinander geschmiegt.
Der Sturm draußen tobte noch immer unermüdlich und erleuchtete das kleine Zimmer in der Waldhütte in regelmäßigen Abständen taghell, während es draußen donnerte und regnete.
Die Mädchen schliefen tief und fest in ihrem eigenen Zimmer, während Niall und Liam notgedrungen das Wohnzimmer bezogen und auf der Couch geschlafen hatten.
Es war ruhig geworden in er kleinen Waldhütte. Die einzigen Geräusche kamen von draußen, aus dem Wald und vom Wasser, die der Sturm in Bewegung hielt.
Dann allerdings wurde diese Stille jäh durchbrochen.
Ein Knall, kurz darauf das Zersplittern eines schweren Gegenstandes.
Louis schreckte auf und spürte, wie sein Herz raste. Als er einen Blick auf Harry warf, der neben ihm lag, sah er, dass dieser sich irritiert den Schlaf aus den Augen wischte. „Was war das?", wollte er von seinem Freund wissen, doch der Lehrer schüttelte den Kopf.
„Keine Ahnung", antwortete er also wahrheitsgemäß und sah den Anwalt auffordernd an. „Aber wir müssen nachsehen. Die Mädchen sind in ihren Zimmern, und Niall und Liam sind da unten..."
Harry kletterte aus dem Bett, schnappte sich den Schürhaken neben dem etwas kleineren Kamin in ihrem Schlafzimmer und sah Louis schließlich wartend an.
Dieser nickte ihm zu, ehe die Männer sich auf dem Weg nach unten machten.
Die Lichter waren aus, es war still im Untergeschoss, als sie sich die Treppen nach unten schlichen.
Harry, der den Schürhaken fest mit beiden Händen umklammert hielt, spürte, wie ihm das Herz bis zum Hals klopfte.
Und Louis, der sich dicht hinter ihn drängte, fühlte sich nicht recht viel anders.
Man konnte schließlich nie wissen - immerhin waren sie in einer fremden Hütte in einem fremden Waldstück.
Als sie die letzte Treppenstufe hinter sich gelassen hatten, drang ein dumpfes Seufzen an ihre Ohren - die Männer hielten einen Moment lang inne, wussten nicht, wie sie das Geräusch einordnen sollten. Das Röcheln klang beinahe so, als würde jemand keine Luft bekommen.
Louis zitterte und tastete hastig nach dem Lichtschalter.
Nur eine Sekunde später wünschte er sich, er hätte es nicht getan.
Sofort schlug er sich die Hände vor die Augen, Harry ließ den Schürhaken fallen und drehte sich mit zusammen gekniffenen Augen um.
Niall und Liam hatten sich wohl von der romantischen Stimmung des Feuers packen lassen und sich auf dem Boden vor dem Kamin zu einem Schäferstündchen eingefunden.
Im Halbdunkel hatten sie dabei wohl eine Vase umgestoßen.
Eilig kletterte Liam von seinem Freund herunter, griff nach der nächstbesten Decke und breitete sie über ihnen aus, während allen vier beteiligten die Röte ins Gesicht stieg.
„Oh mein Gott", murmelte Harry, viel mehr zu sich selbst, als zu irgendwem sonst.
„Was macht ihr denn hier?", wollte Liam von den beiden Männern wissen, während er sich durch die Haare fuhr. „Wir dachten, ihr würdet längst schlafen."
„Das sehe ich", murmelte Louis und legte den Kopf in beide Hände. „Das bekomme ich doch nie wieder aus meinem Kopf raus."
Harry schüttelte sich. „Ich denke es ist besser, wir gehen wieder", sagte er, als er sich vorsichtig umdrehte. „Gute Nacht."
Niall, der Louis' Blick geschickt auswich, wäre am liebsten im Erdboden versunken.
Noch viel unangenehmer konnte die Nacht in dieser Hütte wohl nicht mehr werden.

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