...Ich kann es kaum erwarten...

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Harry machte sich abends also klammheimlich auf dem Weg zu Louis, während er die einstündige Fahrt damit zubrachte, sein schlechtes Gewissen Victoria und Jane gegenüber zu beruhigen. Trotz allem fand sich das altbekannte Kribbeln in seiner Magengegend; es ließ ihn auf eine seltsame Art und Weise nervös werden, die unangenehm und schön zugleich war.
Als er zum zweiten Mal an diesem Tag über Louis' Türschwelle trat, sah der Lehrer ihm aus erleichterten Augen entgegen. „Ich war mir nicht sicher, ob du kommen würdest."
Unsicherheit schwang in seiner Stimme mit. Unsicherheit und die Frage, ob er seine Gefühle tatsächlich so offen äußern sollte, nach allem, was passiert war.
Harry spürte, wie sein Magen sich zusammen zog und das Kribbeln sich in Übelkeit verwandelte.
Louis' Aussage hatte ihn verletzt, aber er wusste ganz genau, dass er kein Recht hatte, ihm deshalb einen Vorwurf zu machen.
„Ich habe dir versprochen, zu kommen", erinnerte der Anwalt beschwichtigend, „Also komme ich auch."
Louis nickte und trat einen Schritt zur Seite, um Harry in die Wohnung zu lassen. „Hast du Hunger?"
Harry nickte. Er hatte während des Abendessens mit Jane kaum einen Bissen hinunter bekommen. Mittlerweile hatte sein Magen allerdings angefangen, sich deshalb zu beschweren, und hörte praktisch gar nicht mehr auf, zu knurren.
„Sehr gut", kommentierte Louis grinsend, während Harry sich die Schuhe auszog und den Mantel an die Garderobe hing. „Ich habe gekocht."
„Tatsächlich?", Harry zog beeindruckt beide Augenbrauen nach oben. „Was denn?"
„Vegetarischen Flammkuchen", erklärte Louis und beobachtete Harry dabei, wie er den Schal abnahm.
„Französisch", stellte Harry belustigt fest, „Und ich dachte immer, die essen nur Froschschenkel und Käse."
Mahnend hob Louis seinen Zeigefinger. „Würdest du wohl bitte endlich aufhören, mir mit deinen Vorbehalten über dieses Land auf die Nerven zu gehen?"
Schulterzuckend folgte der Anwalt ihm in die Küche, wo Louis den Ofen abschaltete und nach den Topflappen griff. „Ich hoffe, du magst Ziegenkäse."
„Ich mag alles", verkündete Harry, „Außer Tomaten. Tomaten sind widerlich."
Augenrollend drückte Louis ihm eine Flasche Wein in die Hand. „Das ist französischer Wein", erklärte er, allerdings nicht, ohne ihm vorher einen warnenden Blick zuzuwerfen, als Harry bereits den Mund geöffnet hatte. „Spar dir den Kommentar."
Grinsend nahm Harry die Flasche entgegen und stellte sie auf den Tisch. Er staunte nicht schlecht: Louis hatte sich wirklich Mühe gegeben.
Er hatte überall in der Wohnung Kerzen aufgestellt, die den Raum so weit erhellten, dass keine künstliche Beleuchtung mehr nötig war.
Außerdem verströmten sie einen ganz wunderbaren Geruch nach Rosenblättern - woher hatte Louis nur gewusst, dass Harry diesen Geruch liebte, weil er ihm das Gefühl von Geborgenheit vermittelte?
Obwohl Louis sich nicht sicher gewesen war, ob Harry kommen würde, hatte er doch ein gewisses Maß an Vertrauen in ihn gesetzt, indem er sich so viel Mühe gegeben hatte; Harry spürte, wie ihm ganz warm ums Herz wurde, und er sein schlechtes Gewissen für einen Moment lang vergaß.
Als Louis hinter ihm den Flammkuchen auf den Tisch stellte, spürte Harry, wie ein Lächeln sich ganz unbewusst auf seine Lippen schlich, ohne dass er irgendeine Art von Kontrolle darüber gehabt hätte. „Du hast dir so viel Mühe gegeben", flüsterte er, während er Louis in seine Arme zog. „Ich habe das gar nicht verdient, nach all den Dingen, die in letzter Zeit passiert sind."
Louis antwortete nicht sofort. Er wich seinem Blick aus und seufzte. „Da hast du wohl recht. Aber ich konnte einfach nicht anders."
Obwohl Louis' Worte ihm klar und deutlich zeigten, dass er die Sache noch nicht komplett vergessen hatte, hörte Harry die Hoffnung in seinen Worten. „Ich weiß, ich habe dir sehr weh getan", murmelte er, während er gezielt versuchte, wieder Blickkontakt zu Louis herzustellen, was ihm mehr oder weniger gut gelang. „Aber ich verspreche dir, dir nie wieder so viel Schmerz zuzufügen. Dafür bedeutest du mir mittlerweile viel zu viel."
Ein Funkeln spiegelte sich für einen Moment lang in Louis' Augen, und er entspannte sich in Harry's Armen. Obwohl er nichts sagte, war diese Stille nicht unangenehm. Ganz im Gegenteil; beide fühlten sich wohl in den Armen des anderen, ohne sich etwas sagen zu müssen.
Es war alles gesagt - es waren keine Worte mehr nötig.
Während sie aßen, bemühten sich beide Männer um ein möglichst unbefangenes Gespräch. Keiner von beiden wollte so wirklich über das sprechen, was passiert war - auch wenn das vermutlich nicht der richtige Weg war, die Sache anzugehen.
Sie sprachen über die Mädchen, unterhielten sich über Louis' Zeit in Paris und darüber, dass es Harry eine ganze Menge Überwindung gekostet hatte, eine Reise nach Paris zu buchen - immerhin waren Franzosen nicht seine besten Freunde.
Lachend stießen sie miteinander an, und Harry strich sich eine Strähne des dunklen Haares aus dem Stirn. „Aber ich muss zugeben", witzelte der Anwalt, „Der Wein schmeckt gar nicht schlecht."
Der Wein hatte Louis die Röte auf die Wangen getrieben, und auch Harry's Bäckchen hatten eine leichte Farbe angenommen.
„Wann musst du morgen anfangen?", wollte Harry schließlich von dem Lehrer wissen. Der schien einen Moment lang nachzudenken, und zuckte schließlich beide Schultern.
„Ich sollte nach Möglichkeit pünktlich um sieben an der Schule sein", murmelte er schließlich, „Morgen steht eine Klassenfahrt ans Gericht auf dem Plan."
Belustigt zog Harry eine Augenbraue nach oben. „Ans Gericht?", wiederholte er kopfschüttelnd, während er die Hitze in seinem Gesicht spürte. „Was macht eine Schulklasse am Gericht?"
Ein Seufzen drängte sich aus der Brust des Lehrers. „Sie haben dieses Jahr mit Rechtslehre begonnen", erklärte er, „Wenn ein passendes Verfahren läuft, können Schulklassen sich die Verhandlungen ansehen."
Harry nickte. „Interessant."
„Wann musst du morgen anfangen?"
Auch der Anwalt schien kurz nachzudenken. „Ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich das auswendig gar nicht weiß", kicherte er, „Lass mich mal kurz nachsehen..."
Er zog das Telefon aus seiner Tasche, ignorierte eine Nachricht von Jane, in der sie ihm schrieb, dass er ihr fehlte, und rief seinen Kalender auf. Seufzend legte er das Telefon zurück auf den Tisch, den Blick noch immer auf das Display gehaftet. „In etwa um die gleiche Zeit wie du", gab er schließlich zur Antwort, „Ich habe morgen auch eine Verhandlung im Gericht, und sollte mir nach Möglichkeit vorher die Akten noch einmal genau ansehen."
Überrascht zog Louis beide Augenbrauen nach oben. „Du bist morgen auch am Gericht?"
Ein belustigter Ton drängte sich unwillkürlich aus Harry's Brust. „Ich bin Anwalt, Louis", kicherte er, „Es kommt durchaus vor, dass ich hin und wieder am Gericht rumhänge."
Auch Louis musste kichern. Der Wein machte die beiden Männer redselig, und vor allem ließ er sie Witze machen, die eigentlich gar nicht witzig waren.
„Was verhandelst du denn morgen?", wollte er schließlich von dem Anwalt wissen, nachdem die beiden Männer sich wieder beruhigt hatten.
Harry grübelte kurz, rollte dann allerdings die Augen und legte den Kopf entnervt in die großen Hände. „Wenn mich nicht alles täuscht, ist es diese blöde Tussi, die ständig mit Kaugummi im Mund in die Kanzlei kommt, und auf ihren hohen Schuhen ohnehin nicht laufen kann."
Louis prustete los und hätte dabei beinahe den Wein wieder ausgespuckt, den er gerade hatte trinken wollen. „Und was hat sie verbrochen?"
„Sie hat gar nichts verbrochen", antwortete Harry und hob den Kopf wieder aus den Händen. „Sie hat ihren Nachbarn verklagt, weil er betrunken in ihrer Garage randaliert, und dabei einen ziemlich großen Sachschaden zurückgelassen hat."
Louis zog beide Augenbrauen nach oben. „Wer zerstört betrunken die Garage seiner Nachbarn?"
„Puh", machte Harry und legte gespielt nachdenklich die Finger ans Kinn. „Mir würde einiges einfallen, was ich meinen Nachbarn gern antun würde..."
„Harry!", rief Louis mit täuschend echtem Entsetzen aus, „Sowas darfst du nicht sagen! Du bist Anwalt!"
Schulterzuckend erhob Harry sich vom Tisch und zog eine Schachtel Zigaretten aus seiner Hosentasche. „Und wenn schon. Ich wär im letzten Semester beinahe von der Uni geflogen, weil ich einen Professor beleidigt habe."
„Wie bitte?", Louis sah den Anwalt mit großen Augen an, „Im Ernst?"
Beschwipst kichernd bewegte Harry sich auf die Balkontür zu. „Ja. Du hättest Janes Gesicht sehen sollen!", er klatschte sich vor Belustigung in die Hände, „Und ihre Standpauke danach ... Schrecklich."
Louis sah ihm verwundert nach, griff schließlich nach seinen eigenen Zigaretten und folgte dem Anwalt nach draußen. „Was hast du denn zu ihm gesagt?"
Harry winkte hastig ab. „Ich hab ihn eine Schwuchtel genannt", entnervt rollte er beide Augen.
Louis sah ihn mit gerunzelter Stirn an, und Harry hob abwehrend die Hände. „Was denn? Er hat meine Hausarbeit schlechter bewertet, als sie eigentlich war."
Louis konnte sich nicht helfen, als sich ein Laut aus seiner Brust drang, der einem Lachen doch recht nah kam. „Und woher möchtest du wissen, dass sie eigentlich eine bessere Bewertung verdient gehabt hätte?"
„Hallo?", Harry sah ihn mit großen Augen an, „Ich hab sie geschrieben?"
„Ja", pflichtete Louis ihm bei, „Vielleicht liegt genau darin das Problem."
Harry hielt einen Moment lang inne, steckte sich dann seine Zigarette an und blies den Rauch langsam wieder aus. „Hast du gerade an meinen Fähigkeiten als Student gezweifelt?"
Grinsend schüttelte Louis den Kopf. „Das würde ich niemals wagen. Schließlich hattet ihr Jurastudenten schon an der Uni die Nase immer ganz weit oben."
„Du bist ganz schön frech heute", stellte Harry fest und beobachtete den Lehrer dabei, wie auch er sich eine Zigarette ansteckte.
„Bin ich das?", wollte dieser - noch immer grinsend - von seinem Gegenüber wissen.
Harry schmunzelte. „Vermutlich habe ich es nicht anders verdient, nachdem ich schon ungefähr zwanzig Franzosenwitze gerissen habe, seitdem ich durch deine Tür gegangen bin."
Louis lachte hell auf. „Ich sehe schon, wir verstehen uns."
Augenrollend zog der Anwalt ein weiteres Mal an seiner Zigarette und seufzte schließlich tief. „Es ist so schön, hier zu sein. Bei dir..."
Mit diesen Worten näherte er sich dem Lehrer einen Schritt und drückte ihm einen sanften Kuss auf die Stirn. „Ich habe dich vermisst."
Während Louis spürte, wie das altbekannte Kribbeln in ihm aufstieg, konnte er kaum verbergen, dass seine Atmung sich beschleunigte.
Nicht nur, weil er sich so sehr freute, Harry hier zu haben - auch war er sich nicht sicher, ob es so eine gute Idee war, Harry schon jetzt wieder so nah an sich heran zu lassen.
Den Gedanken schob er allerdings schnell wieder beiseite. „Ich habe dich auch vermisst."

*

Nachdem beide ihre Zigaretten aufgeraucht hatten, gingen sie wieder in Louis' Wohnung, um den Tisch abzuräumen.
Währenddessen unterhielten sie sich über alles mögliche - über einen von Louis' Schülern, der so ganz und gar nicht kapieren wollte, wie das mit der französischen Vergangenheit funktionierte (wobei Harry wieder einige gemeine Witze über die Lippen gekommen waren), über einen von Harry's Mandanten, der wohl nicht so ganz einsehen wollte, dass man seine Bußgelder bezahlen musste, und über die Tatsache, dass morgen Gott sei Dank Freitag war.
Nur ein Thema tauchte in keinem ihrer Gespräche auf: Die Art und Weise, auf die Harry Louis' Vertrauen gebrochen hatte.
Auch wenn keiner von beiden es aussprach, hing das Thema doch schwer in der Luft.
Harry allerdings wollte, dass Louis sich bei ihm wieder wohl fühlte.
Und so nahm er den Lehrer an die Hand, nachdem sie die Küche aufgeräumt hatten, und zog ihn in seinen Arm. „Kann ich dir etwas sagen?"
Louis antwortete nicht sofort. Zu überrascht war er von Harry's plötzlicher Zärtlichkeit. „Du kannst mir alles sagen", gab er schließlich zur Antwort und wand seinen Blick dem Anwalt zu.
„Es tut mir so leid, was passiert ist", flüsterte er schließlich, „Und ich weiß, dass dich keine Schuld trifft. Die Frage ist nur, ob du das auch weißt."
Louis zuckte beide Schultern. „In gewisser Weise weiß ich das mit Sicherheit", erklärte er, „Aber ich bin trotz allem der Meinung, dass auch ich meinen Teil dazu beigetragen habe."
Harry sah ihn verwundert an. „Ach ja? Wie denn?"
Schulterzuckend löste Louis sich aus der engen Umarmung. „Ich hätte ganz einfach nicht so naiv sein sollen."
Autsch.
Harry schluckte und schüttelte schließlich energisch den Kopf. „Ich weiß, dass du denkst, ich wisse nicht, was ich wolle", murmelte er und ließ Louis dabei keine Sekunde lang aus den Augen. „Aber das ist nicht wahr. Zumindest nicht mehr. Ich weiß ganz genau, was ich möchte."
Ein Lächeln zierte Louis' Lippen. Harry's Stimme klang so ehrlich, so überzeugt, dass seine Zweifel ein wenig kleiner wurden.
„Ich habe mich entschieden, Louis, und ich kann es kaum erwarten, dir das zu beweisen", flüsterte Harry, während er den Lehrer wieder etwas näher zu sich zog, ihn einen Moment lang ansah und schließlich ihre Lippen miteinander verschloss.

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