Das war gelogen

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Natürlich war Louis sofort Feuer und Flamme für Harry's Idee gewesen, versprach ihm, das mit Amy's Babysitterin abzuklären und wünschte ihm eine gute Nacht, wohl in dem Wissen, dass er sie mit Jane verbringen würde.

Und natürlich brach das schlechte Gewissen über Harry herein wie ein Wasserfall; den Tränen nahe saß er seiner Frau beim Abendessen gegenüber, während er lustlos in seinen Nudeln herumstocherte.
Victoria schien die Traurigkeit ihres Vaters zu bemerken, sah ihn prüfend an und legte schließlich ihre Gabel beiseite. „Ist alles in Ordnung, Papa?"
Augenblicklich schnellte Harry's Blick nach oben. Das unangenehme Gefühl in seiner Magengegend verstärkte sich um ein vielfaches, als er den besorgten Blick seiner Tochter sah. „Natürlich", versicherte er ihr, obwohl es gelogen war. „Ich bin nur müde. Ich hatte einen sehr anstrengenden Tag."
Das war noch nicht einmal gelogen - es war tatsächlich ein sehr langer Tag gewesen, auch wenn Harry sich im Klaren darüber war, dass er seiner Tochter wohl kaum die ganze Wahrheit erzählen konnte. Sie war viel zu jung, um zu begreifen, was hier passierte; er zerstörte ihre Familie, die heile Welt, in der sie sich eigentlich so wohl fühlte.
Und es war seine verdammte Schuld.

Je schneller er dieses Gespräch hinter sich brachte, desto besser.
Er stellte sich ohnehin die Frage, wie er das noch einige Tage aushalten sollte, bis Louis und er wieder aus Paris zurück sein würden.

Das Wissen um seine eigene Untreue zerfraß ihn regelrecht; er musste sich irgendwie davon lösen, er musste diese Situation aufklären - doch plötzlich schien es ihm unmöglich, damit noch zu warten, bis er aus Paris zurückkommen würde.
Und so fasste er kurzerhand den Entschluss, noch heute mit seiner Frau zu reden. Natürlich ohne, dass Victoria davon erfahren oder etwas mitbekommen würde; das konnte und wollte er ihr noch nicht antun.
Vorerst wollte er lediglich mit seiner Frau darüber reden und mit ihr die weiteren Schritte besprechen. Gott sei Dank - und das war sowohl ein finanzieller, als auch ganz einfach praktischer Vorteil - konnte Harry sich selbst um die Einleitung rechtlicher Schritte und das weitere Prozedere kümmern.

Und so brachte Harry seine Tochter ins Bett, las ihr eine Geschichte vor und wartete, bis sie eingeschlafen war.
Einen Moment lang sah er sie an, und spürte, wie sich in ihm die Empfindungen mischten: Einerseits empfand er nichts als Liebe für das unschuldige Wesen, das vor ihm sanft in den Schlaf glitt; andererseits wusste er, dass er ihr schreckliche Schmerzen zufügen, und ihre heile Welt zerstören würde.

Langsam richtete der Anwalt sich auf und stieß ein tiefes Seufzen aus. Das konnte doch alles nicht wahr sein - nie im Leben hätte er gedacht, dass er eines Tages zu den Männern gehören würde, die ihre Frau betrogen; und dann auch noch mit einem Mann...

Er ging in die Küche, wo seine Frau gerade dabei war, das Geschirr in die Spülmaschine zu räumen. Lächelnd drehte sie sich zu ihrem Ehemann um und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Du siehst so nachdenklich aus", stellte sie schließlich fest und strich ihm eine Strähne des braunen Haares aus der Stirn. „Ist alles in Ordnung, Harry?"

Das Herz des Anwalts schien einen Moment lang auszusetzen, und er wusste, dass dies der Moment war, in dem er mit ihr reden musste - in dem er ihr reinen Wein einschenken und ihr beichten musste, was geschehen war; und dass er sich von ihr trennen wollte.

„Genau deshalb wollte ich mit dir sprechen", begann er also, während er spürte, dass seine Beine ganz zittrig wurden. „Lass uns ein Glas Wein trinken und darüber sprechen."
Jane nickte. „Ich räume nur noch kurz das Geschirr in die Spülmaschine", erklärte sie mit einem nun unsicheren Lächeln auf den Lippen. Harry konnte ihr ansehen, dass seine Worte sie verunsichert hatten, und dass sie sich - verständlicherweise - fragte, was zur Hölle ihn so sehr beschäftigte.
Er wollte ihr nicht das Herz brechen; er wollte sie verdammt nochmal nicht verletzen, genauso wenig, wie er Victoria verletzen wollte. Alles schien plötzlich so unlösbar zu sein, als hätte sich das gesamte Universum gegen ihn verschworen.

Wenig später saß das Ehepaar also mit jeweils einem Glas Rotwein in der Hand am Küchentisch, während Harry betreten zu Boden blickte. „Ich muss dir etwas sagen", begann er also, während er sich regelrecht zwingen musste, ihr in die Augen zu sehen.
Es fiel ihm nicht leicht, diesen Schritt zu gehen - aber er wusste, dass es notwendig war, und dass es so auf gar keinen Fall weitergehen konnte. Er musste ehrlich sein; und er musste fair sein.
Jane gegenüber, Louis gegenüber - und vor allem Victoria gegenüber.

Harry's Frau sah ihn verunsichert an, während sie ihren Wein nicht anrührte - ganz im Gegensatz zu ihrem Ehemann, der sein Glas in einem Zug leerte und sich sofort ein zweites einschenkte.
„Worum...", Jane stockte. „Worum geht es denn, Harry?"
Harry wusste nicht, wo und wie er anfangen sollte - es gab keine schöne, schonende Art, ihr beizubringen, dass er sie für einen Mann verlassen wollte.
„Ich habe dir in den letzten Tagen erzählt, ich hätte in der Kanzlei geschlafen, und auch in den letzten Wochen habe ich dir des öfteren erzählt, ich wäre noch in der Kanzlei, weil so viel Arbeit angefallen wäre - erinnerst du dich?"
Jane nickte.
„Das...", begann Harry und seufzte. „Das war gelogen. In Wahrheit war ich mit Victoria bei einer Kindergartenfreundin von ihr - und bei deren Vater."
Erleichtert seufzte Jane auf. „Meine Güte, Harry", strich sie sich theatralisch das Haar aus der Stirn. „Deshalb machst du so einen Aufstand? Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt."
„Naja...", begann Harry, „Ich war noch nicht-"
In diesem Moment klingelte es an der Tür. Irritiert zog der Anwalt beide Augenbrauen nach oben und sah seine Frau fragend an. „Wer klingelt denn so spät noch bei uns an der Tür?", wollte er von ihr wissen, „Erwartest du Besuch?"
Jane schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. „Verdammt!", rief sie aus, „Das habe ich ganz vergessen! Sophia und ihre Freundin wollten heute Abend vorbeikommen, um einige Details für ihre Hochzeit zu besprechen."
Innerlich ließ Harry die Schultern sinken - das konnte doch nicht wahr sein. Da hatte er einmal den Mut gefasst, mit seiner Frau über alles zu sprechen, und dann wurden sie dabei unterbrochen.
Allerdings konnte er nicht leugnen, dass er sich auf der anderen Seite sehr erleichtert fühlte.

Jane gab ihm einen letzten Kuss auf die Stirn. „Mach dir doch deshalb nicht so viele Gedanken, Harry", lächelte sie, „Das ist doch nicht schlimm. Ich verstehe bloß nicht, weshalb du mich deshalb anlügen musstest... Aber darüber können wir doch morgen sprechen."

Harry hätte erwartet, dass sie wütender sein würde; allerdings lag das vermutlich daran, dass sie mit schlimmerem gerechnet hätte - zu Recht...

Seufzend gesellte sich Harry also zu dem Haufen gackernder Frauen, rang sich hin und wieder ein Lachen ab und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen - das war schwerer als gedacht, immerhin hatten die Freundinnen seiner Frau ihn gerade dabei unterbrochen, ein alles veränderndes Geständnis abzulegen.
Aber damit musste er nun wohl leben, während er die ganze Flasche Wein alleine leerte.

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