Wie bitte?

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Harry spürte, wie sein Herz schneller schlug, als er seine Tochter am folgenden Abend bei Jane abholte.
Seine Frau öffnete ihm erstaunlich gefasst die Tür, bat ihn lediglich, die Schuhe auszuziehen und ging damit zurück ins Wohnzimmer, wo Victoria gerade dabei war, ihre Sachen einzupacken.
„Daddy!", rief das kleine Mädchen aus und sprang ihrem Vater sogleich in die Arme. „Wo warst du denn so lange?"
Harry ignorierte Jane's eifersüchtigen Blick und seufzte. „Ich musste etwas länger arbeiten, Liebling, und der Verkehr war eine Katastrophe. Bist du fertig?"
Das war noch nicht einmal gelogen. Harry's letzter Mandant hätte ihn beinahe den letzten Nerv gekostet.
„Fertig", antwortete Victoria und hielt ihrem Vater stolz die pinke, mit Einhörnern und Regenbögen bedruckte Tasche unter die Nase.
„Was ist mit deinem Hasen?", wollte Jane mit einem erschöpften Lächeln auf den Lippen wissen und deutete auf das Plüschtier, das noch immer auf dem Sofa lag.
Victoria sprang schnellen Schrittes durch das Wohnzimmer und griff sich ihren Hasen, ehe sie sich an Harry's Hand klammerte und zur Tür deutete. „Können wir dann los?"
Harry nickte und warf Jane ein letztes Lächeln zu, während das erschöpfte Gesicht seiner Noch-Ehefrau zum Fenster hinausblickte und den Regen beobachtete. Harry's schlechtes Gewissen wuchs erneut zu monströser Größe an, was er zum Anlass nahm, sich schnellstmöglich seine Schuhe anzuziehen, ehe das düstere Gefühl noch größer werden und ihn übermannen konnte.
„Sag deiner Mama noch auf Wiedersehen", presste der Anwalt schließlich hervor und sah dabei zu, wie Victoria ihre Mutter noch ein letztes Mal umarmte, bevor sie sich zusammen auf den Weg zur Tür machten.
Jane stand dicht hinter ihnen, als Harry die Tür öffnete. „Harry?"
Wie von einer Tarantel gestochen wirbelte Harry zu ihr herum und sah sie fragend an. Sein Herz hätte fast einen Schlag lang ausgesetzt; er wollte hier raus. Nein, er musste. Er hielt es in diesem Haus keine zehn Sekunden länger mehr aus. „Ja?"
Jane fuhr sich durch das leuchtend rote Haar, bevor sie die Bombe platzen ließ: „Ich möchte für die Scheidung einen unabhängigen Anwalt beauftragen."
Harry spürte, wie ihm seine Mimik entglitt. „Wie bitte?"
„Du hast mich schon verstanden", gab Jane unterkühlt zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich möchte nicht, dass du dich um die Scheidung kümmerst."
Harry schüttelte den Kopf. „Ich möchte das nicht vor Victoria besprechen", flüsterte er. „Reiß dich zusammen. Ich komme morgen nach der Arbeit zu dir."
Jane sah ihren Mann herablassend an. „Du wirst nicht darum herumkommen."
„Wir reden morgen", würgte Harry die Diskussion ab und wand sich zum Gehen.
Wie konnte sie nur jedes Mal wieder vor ihrer gemeinsamen Tochter anfangen, mit ihm über solche Dinge zu diskutieren?
Er wollte Victoria aus diesem Streit heraushalten. Er wollte, dass sie zu beiden ein gutes Verhältnis hatte, und nicht das Gefühl bekam, sich in irgendeiner Art und Weise entscheiden zu müssen, oder dass sie gar dachte, einer der beiden wäre „der Böse" in dieser Geschichte.
Dafür war sie viel zu jung, und außerdem in der falschen Position. Ein Kind sollte sich nicht mit der Scheidung seiner Eltern auseinandersetzen müssen.
Harry stieg in seinen Wagen und half Victoria, sich anzugurten, ehe er losfuhr und Jane - vermutlich noch immer leicht säuerlich - allein in dem großen Haus zurückließ.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis Victoria anfing, Fragen zu stellen - und leider war ihm das sehr bewusst.

Als Harry eine Stunde später mit seiner Tochter bei Louis und Amy ankam, schlug ihm bereits der Geruch nach frischen Pfannkuchen entgegen. Ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen, und er spürte, wie der Stress des Tages von ihm abzufallen schien.
Er warf einen Blick in die Küche, wo Louis versuchte, zwischen dem Kochen der Pfannkuchen und Amy's Betreuung zu jonglieren. Harry glaubte, aus dessen Gesichtsausdruck ablesen zu können, wie sehr er sich freute, den Anwalt zu sehen.
„Wie war die Arbeit?", wollte Louis nach einer kurzen Begrüßung von ihm wissen, während die Mädchen in Amy's Zimmer verschwanden und es sich dort gemütlich machten, bis Louis mit dem Kochen fertig war.
Harry griff nach den Tellern, die Louis bereits auf der Kochinsel platziert hatte und begann, den Tisch zu decken. „Ich möchte heute noch mit ihr sprechen", verkündete Harry und nickte in Richtung des Kinderzimmers. „Ich muss es ihr einfach sagen. Alles andere wäre absolut nicht fair."
Louis nickte und blickte dem Anwalt verständnisvoll entgegen. „Dann lass ich mir etwas einfallen, was Amy und ich solange machen könnten."
Dankbar lächelte Harry dem Lehrer entgegen und schnappte sich das Besteck vom Tresen.
Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Wie zur Hölle sollte er einem fünfjährigen Mädchen klarmachen, was da zwischen seiner Frau und ihm vor sich ging?

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