Ich weiß wirklich nicht, was ich ohne dich machen würde.

4.5K 496 65
                                    

Der gestrige Abend hing noch immer schwer zwischen den Gedanken des Anwalts, als er am nächsten Morgen die Tür zur Kanzlei aufschloss. Es war noch viel zu früh, außer ihm war noch niemand hier und er wusste, dass das auch noch für mindestens eine Stunde lang so bleiben würde.
Louis hatte sich bereit erklärt, die beiden Mädchen in den Kindergarten zu bringen.
Harry hatte nicht mehr schlafen können, und es alleine mit seinen Gedanken nicht mehr ausgehalten; also hatte er den Entschluss gefasst, zur Arbeit zu fahren, um den Kopf etwas freizubekommen.
Dass das nicht unbedingt gut funktionierte, hatte er in der Vergangenheit bereits öfter erfahren müssen - aber davon ließ er sich nicht beirren. Alles - wirklich alles - war besser, als um fünf Uhr morgens allein mit seinen Gedanken zu sein, im Bett zu liegen, und sich in der Stille des anbrechenden Tages den Kopf zu zerbrechen.
Er hatte seine Tochter schwer enttäuscht, und er wusste ganz genau, dass er das nicht mehr rückgängig machen konnte.
Er holte sich also als erstes einen Kaffee, setzte sich damit an seinen Schreibtisch und begann, ein Gutachten aufzusetzen, mit dem er eigentlich bereits gestern Abend hatte beginnen wollen.
Er vertiefte sich in seine Arbeit; doch immer wieder schlichen sich düstere Gedanken zwischen seine Überlegungen, und Harry fragte sich doch ernsthaft, was er in seinem Leben so falsch gemacht hatte, um das alles zu verdienen.

Als es langsam später wurde und der Anwalt bereits zwei Stunden über seinem Gutachten gebrütet hatte, klopfte es vorsichtig an der Tür des Büros.
Harry bat den Gast herein, bei dem es sich ohnehin nur um Liam handeln konnte, weshalb er sich auch keine große Mühe machte, die schlechte Laune in seinem Ton zu verbergen.
Harry sollte recht behalten. Liam betrat mit nach oben gezogenen Augenbrauen das Büro seines Freundes und ließ sich gemächlich ihm gegenüber nieder. Alles okay, Harry? Du siehst müde aus. Was machst du eigentlich schon so früh hier?"
Seufzend sperrte Harry seinen Bildschirm und stützte die Ellbogen auf dem Schreibtisch ab. Um deine Fragen zu beantworten", setzte er an, Ich sehe nicht nur müde aus, ich bin müde. Und ich bin schon hier, weil ich nicht mehr schlafen konnte."
Demonstrativ nahm der Anwalt einen Schluck aus seiner mittlerweile dritten Kaffeetasse.
Liam sah ihn mitleidig an. Was ist passiert? Macht Jane Ärger?"
Harry schüttelte den Kopf. Nein. Zumindest nicht mehr, als ich erwartet hatte", gab er schließlich zur Antwort, Victoria macht mir im Moment mehr Sorgen."
Liam sah seinen Freund fragend an. Weshalb? Geht es ihr nicht gut?"
Doch, eigentlich schon...", antwortete Harry und zögerte einen Moment, während er sich die Worte in seinem Kopf zurechtlegte. An diesem Morgen funktionierte alles in seinem Gehirn etwas langsamer.
Louis und ich haben gestern versucht, den Mädchen zu erklären, dass wir ... nun ja, dass wir ein Paar sind. Amy hat das Ganze auch sehr gut aufgenommen, Victoria hingegen..."
Harrys Kollege nickte, zum Zeichen, dass er verstanden hatte. Gib ihr Zeit, Harry. Jane und du lasst euch gerade erst scheiden. Es ist schwierig für ein Kind, das zu verdauen. Immerhin hat sie ihr ganzes Leben lang gelernt, dass Mama und Papa sich lieb haben - und jetzt zu sehen, wie ihr auszieht und Jane im Endeffekt alleine zurückbleibt, schwanger und-"
Stopp", unterbrach Harry seinen besten Freund, Jane ist nicht allein. Ich lasse doch meine schwangere Frau nicht ohne jegliche Unterstützung-"
So war das doch gar nicht gemeint", unterbrach nun Liam seinen Freund und schüttelte demonstrativ den Kopf. Ich meine nur, dass es Victoria einfach schwer fallen wird, die ganze Situation zu begreifen. Sie ist fünf Jahre alt, Harry. Gib ihr etwas Zeit."
Vermutlich hast du Recht", seufzte Harry und entspannte sich etwas. Tut mir leid. Ich bin in letzter Zeit einfach unausstehlich."
Liam kicherte. Das stimmt", witzelte er, Aber das macht nichts. Die Situation wird sich klären, glaub mir."
Apropos", warf Harry ein, Wie geht es eigentlich Niall und dir mit eurem ... Problem?"
Obwohl Harry versucht hatte, nur ganz vorsichtig nachzuhaken, sah er, wie Liams Gesichtsausdruck sofort wieder traurig wurde.
Niall ist...", begann Liam, brach aber dann ab, weil er nicht wusste, wie er weiterreden sollte. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Er ist so niedergeschlagen, und ich verstehe ihn - das tue ich wirklich - aber ich fürchte einfach, dass wir uns in diesem Punkt nicht einigen können..."
Weil du nicht willst oder weil du nicht kannst?"
Liam sah Harry irritiert an. Wie meinst du das?"
Ich kenne dich, Liam", erklärte Harry und sah seinen Freund ernst an. Und ich weiß, dass du verdammt stur sein kannst. Du rückst keinen Millimeter von deiner Position ab, auch wenn du eigentlich weißt, dass du es könntest. Kann es nicht sein, dass du dich so sehr in deine Sichtweise vertieft hast, dass du gar nicht auf die Idee kommst, dass auch Niall's Sicht der Dinge vielleicht gar nicht so schlecht wäre?"
Harry", warf Liam ein, In diesem Thema gibt es kein Richtig' und kein Falsch'. Es gibt kein Recht' oder Unrecht'. Beide Seiten sind zulässig, aber  man muss sich einig werden. Aber genauso wenig wie es richtige oder falsche Sichtweise gibt, gibt es in dieser Geschichte einen Kompromiss."
Das meine ich doch gar nicht", erklärte Harry und sah Liam eindringlich an. Geh noch einmal in dich, und versuche herauszufinden, ob du dich mit dem Gedanken an ein Kind nicht vielleicht doch anfreunden könntest. Ich kenne dich, Liam, und ich weiß, dass du eigentlich immer Kinder haben wolltest, bis du mit beiden Beinen fest im Berufsleben gestanden hast. Und du weißt, ich würde dir das nicht ans Herz legen, wenn ich nicht wüsste, dass es nur das Beste für dich ist."
Liam seufzte und wusste nicht so recht, was er darauf sagen sollte.
Die schreckliche Erkenntnis, dass Harry vielleicht recht haben könnte, sickerte allmählich zu ihm durch.
Er musterte seinen besten Freund und wich dessen Blick aus, als er seinen Kopf hob. Ich weiß nicht, was ich tun soll", flüsterte er schließlich, während er bemerkte, dass Tränen hinter seinen Lidern brannten. Ich weiß nicht, ob das noch zu retten ist."
Harry nickte ihm aufmunternd zu. Natürlich ist es das", versicherte er ihm, Du musst dir klar darüber werden, was du wirklich willst, und dann mit Niall darüber sprechen."
Liam nickte und warf einen Blick auf die Uhr. Vermutlich hast du recht", murmelte er, Ich muss aber langsam los. Mein erster Mandant kommt in einer viertel Stunde."
Harry stand auf, ging um den Tisch herum und legte seinem besten Freund die Hand auf die Schulter. Im Falle eines Falles kannst du mit der Arbeit doch auch kürzer treten. Ein paar Mandanten weniger werden die Kanzlei schon nicht in den Ruin stürzen. Ich bin immerhin auch noch da."
Ein dankbares Lächeln schlich sich auf die Lippen des Anwalts, ehe er Harry in eine feste Umarmung zog. Ich weiß wirklich nicht, was ich ohne dich machen würde."

Hallo meine Lieben!
Es tut mir (und Kiki) wirklich unwahrscheinlich leid, dass es so lange gedauert hat, bis ein neues Kapitel online kam. Ab jetzt wird wieder in regelmäßigen Abständen hochgeladen werden.
Ich hatte einen Trauerfall in der Familie, und vor kurzem noch einige Katzenbabys adoptiert, die zu diesem Zeitpunkt erst einen Tag alt waren. Ich weiß nicht, wer von euch sowas schon mal gemacht hat - aber eine kleine Katze mit der Flasche aufzuziehen ist wahnsinnig zeitintensiv. Sie brauchen alle zwei Stunden Milch - auch nachts. Das schlaucht sehr, und ich bin froh, dass ich das letzte Kapitel einigermaßen vernünftig zustande gebracht habe. Immerhin muss ich neben dem Ganzen auch noch arbeiten.

Ich hoffe jedenfalls, dass ihr uns nicht alle abgesprungen seid - und natürlich auch, dass euch das Kapitel gefallen hat.
Wir freuen uns sehr auf eure Rückmeldungen!

All the love
Helena xxx

AnimusWo Geschichten leben. Entdecke jetzt