Das weiß ich

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Louis saß dem Anwalt mit pochendem Herzen gegenüber, während er versuchte, sich von seiner Unsicherheit und der absolut nervenzehrenden Nervosität nichts anmerken zu lassen. Er war in den letzten Stunden durch die Hölle gegangen, auch wenn Harry ihm versprochen hatte, ihn nicht noch einmal zu enttäuschen; irgendwann hatte er es allerdings geschafft, sich einigermaßen zu beruhigen und sich einzureden, dass schon alles - irgendwie - wieder gut werden würde.
Jetzt allerdings, da Harry wie ein Häufchen Elend vor ihm saß, waren all diese positiven Gedanken dahin und es war, als hätten sie nie existiert.
Das Herz schlug ihm bis zum Hals, und er spürte, dass ihm die Knie zitterten. Er fühlte sich gar nicht wohl, und hätte die Wahrheit am liebsten aus Harry herausgequetscht.
Aber das ging nicht.
Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll", murmelte Harry, während noch immer Tränen über seine Wangen liefen, ohne dass er sie aufhalten konnte.
Tu es einfach", flüsterte Louis, wollte seiner Aussage eigentlich etwas Nachdruck verleihen, hatte aber absolut keine Kraft mehr dafür.
Und so blieb ihm nichts anderes übrig, außer abzuwarten - abzuwarten, was Harry ihm zu sagen hatte, und was das für ihre Zukunft bedeutete.
Ich habe mit Jane geredet", begann Harry also die wohl schwierigsten Minuten seines Lebens und wich Louis' Blick geschickt aus, um ihm nicht in die traurigen, blauen Augen sehen zu müssen, wenn er erneut sein Herz brach.
Das weiß ich", blaffte Louis und rückte ein Stück von dem Anwalt ab. Spätestens jetzt war ihm klar, dass dieses Gespräch nicht das sein würde, worauf er gehofft, worauf er sich verlassen hatte.
Beschwichtigend hob der Anwalt seine Hände. Nun, besser gesagt habe ich versucht, mit ihr zu sprechen. Sie hat mir einen gewaltigen Strich durch die Rechnung gemacht."
Louis rollte entnervt beide Augen und konnte nicht verhindern, dass ihm Tränen in die Augen stiegen. Er hatte ihn wieder vertröstet. Ich will deine Ausrede gar nicht hören."
Harry seufzte. Was hatte er erwartet? Dass Louis still dasitzen und sich anhören würde, wie er mal wieder versagt hatte?
Ich bin noch nicht fertig", erklärte Harry, während er Louis noch immer nicht in die Augen sehen konnte. So gern er das auch tun würde - es fiel ihm zu schwer. Er konnte es ganz einfach nicht. Lass mich dir bitte erklären, weshalb es so weit gekommen ist."
Louis spürte, wie sein Herz in tausend Teile zerfiel, schon jetzt, in einem Moment, in dem er noch überhaupt keine Ahnung hatte, weshalb Harry eigentlich so aufgelöst war.
Schließlich allerdings deutete er Harry, fortzufahren und beschloss, ihm zuzuhören, bis er zum Ende kam; und offen gestanden hoffte er noch immer, dass er sich diese Situation selbst schlechter redete, als sie eigentlich tatsächlich war.
Nur verließ ihn das absolut aufdringliche Gefühl nicht, dass ihm in wenigen Sekunden sein Herz gebrochen werden würde.
Harry wusste ganz genau, dass er mit der Sprache herausrücken musste, dass er die Situation nicht unnötig herauszögern konnte, weil er sie dadurch nur noch schlimmer machen würde.
Und so stieß er ein tiefes Seufzen aus, bevor er die Bombe ohne jede Vorwarnung platzen ließ: Jane ist schwanger."
Louis, der sich eben noch eine Strähne aus der Stirn gestrichen hatte, hielt in seiner Bewegung inne, als hätte man ihn versteinert, und blickte den Anwalt ungläubig an. Sein Gehirn konnte die Information nicht verarbeiten, die man ihm gerade gegeben hatte. Sie ist was?"
Harry blickte zu Boden, während er spürte, wie ihm die Schamröte in die Wangen kroch. Sie ist schwanger", wiederholte er also mit Nachdruck.
Dem Lehrer entglitten seine Gesichtszüge und er glitt zurück in die Realität, während die Information in seinen Gedanken ankam. Er fuhr sich über das erschöpfte Gesicht und hörte für einen Moment lang auf, zu atmen. Jane war schwanger.
Offen gestanden fehlten ihm die Worte, um Harry eine Antwort zu geben; was hätte er schon sagen sollen? Es gab absolut gar nichts, was er hätte erwidern können, und es gab auch nichts, was Harry hätte sagen können, um die Situation besser zu machen.
Es gab absolut nichts, was irgendjemand hätte tun können, um das Leid auf seiner Seele in diesem Moment zu lindern.
Und so stand Louis auf und ging samt seiner Sprachlosigkeit ans Fenster, warf einen Blick hinaus in den Regen und hoffte, lediglich schlecht zu träumen.
Er war auf seinem Sofa eingeschlafen und Harry würde jeden Moment zu ihm kommen um ihm zu berichten, dass er sich von seiner Frau getrennt hatte und dass sie jetzt zusammen sein konnten.
Doch irgendetwas sagte ihm, dass dem nicht so war.
Und so drehte er sich wieder zu dem Anwalt um und spürte, wie die Tränen seine Wangen nach unten liefen wie kleine Sturzbäche.
Louis", begann Harry und stand von dem Sofa auf, ehe er einige Schritte auf ihn zuging. Hör mir zu, ich-"
Nein", schnitt Louis ihm scharf das Wort ab, während er sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht wischte. Du hörst mir jetzt zu. Ich werde dir jetzt eine Frage stellen und ich möchte, dass du mir eine klare Antwort gibst. Verstanden?"
Harry nickte, ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen und versuchte, seine Atmung unter Kontrolle zu bringen; momentan hatte er das Gefühl, er würde jeden Moment umkippen.
Louis atmete einmal tief durch, ehe er sich aufrichtete und Harry tief in die feuchten, grünen Augen sah. Was bedeutet das jetzt für uns?"
Die Frage versetzte Harry einen Stich ins Herz. Er dachte tatsächlich darüber nach, ihn nach all dem noch immer zu nehmen?
Das konnte doch nicht sein.
Obwohl ihn das freute, betrübte es ihn im nächsten Moment so sehr, dass ihm das Atmen schwer fiel.
Ich...", stotterte Harry und schüttelte seinen Kopf, ehe er sich nervös durch das schulterlange Haar fuhr. Ich kann sie nicht im Stich lassen. Sie erwartet ein Kind und..."
Noch ehe er seinen Satz beenden konnte, spürte Louis, wie jemand das Messer in seinem Bauch umdrehte. Okay", schnitt er ihm zügig das Wort ab, Mehr möchte ich gar nicht hören. Ich möchte, dass du jetzt gehst."
Was?", Harry sah ihn ungläubig an. Andererseits - was hatte er denn erwartet? Dass Louis sich nach dem Gespräch mit ihm an den Tisch setzen und ein Glas Wein trinken würde?
Du hast mich schon verstanden", zischte Louis, während seine Stimme immer dünner wurde. Verschwinde."
Harry wusste, dass er keine Wahl hatte. Und er wusste, dass dies eigentlich der Moment war, in dem man um den anderen kämpfen sollte. Wenn das hier ein Film wäre, würde er zu Louis zurücklaufen, ihn küssen und ihn um Verzeihung bitten.
Aber das hier war kein Film, und es war kein Buch. Es war die bittere Realität, und er konnte absolut nichts dagegen tun.
Die Würfel waren gefallen, und die Dinge waren so, wie sie nun einmal waren.
Und so ging Harry langsamen Schrittes auf die Tür zu, in der Hoffnung, die wenigen Sekunden, die er den Abschied dadurch hinaus zögerte, würden noch irgendetwas daran ändern.
Mit jedem Schritt zerriss es ihm das Herz; er hörte Louis' Schluchzen, während er ganz genau wusste, dass er sein ohnehin vorbelastetes Herz erneut gebrochen hatte.
Nein - er hatte es auf den Boden geworfen und darauf herumgetrampelt.
Dann allerdings kam er an der Tür an, drehte sich ein letztes Mal um und sah Louis noch immer am Fenster stehen, während er wahrscheinlich hoffte, dass Harry so schnell wie nur irgendwie möglich aus seiner Wohnung verschwinden würde.
Harry allerdings zog sich zuerst Schuhe und Mantel an, ehe er einen letzten Blick zu dem Lehrer warf, und ihm tief in die gebrochenen, blauen Augen sah: Ich liebe dich, Louis."
Dann schloss er die Tür hinter sich. Den Schal hatte er absichtlich an der Garderobe gelassen.

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