Wozu?

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Natürlich lag Harry der gestrige Abend auch am nächsten Morgen noch schwer im Magen, als er die Kanzlei betrat, sich ein Gummibärchen aus Ellie's Schale nahm, und dabei noch nicht einmal den bitterbösen Blick seiner Assistentin bemerkte. Er musste schrecklich aussehen und war ihr sehr dankbar dafür, dass sie sich einen Kommentar darüber sparte.
Er hatte kaum geschlafen. Nachdem er Victoria und Amy in den Kindergarten gebracht hatte, war ihm erst klar geworden, wie verdammt erschöpft er eigentlich war - und irgendwie musste er die Kraft finden, den heutigen Tag vor Gericht zu überstehen und den bevorstehenden Prozess zu gewinnen. Immerhin hatten seine Mandanten ihm viel Geld bezahlt, damit er sie verteidigte. Er durfte das hier nicht in den Sand setzen.
Er durfte sich auf gar keinen Fall etwas anmerken lassen.
Die Verwirrung stand ihm buchstäblich ins Gesicht geschrieben. Er setzte sich hinter seine Akten und musste feststellen, dass er so aufnahmefähig war wie ein Stein; er konnte einen Satz um die zwanzig Mal lesen, ohne auch nur den Hauch einer Ahnung von dessen Aussage zu haben.
Irgendwann gab er auf, legte den Kopf in seine Hände und spürte, dass er den Tränen nahe war. Wie sollte es so nur weitergehen?
Er hatte innerhalb von wenigen Wochen sein gesamtes Leben umgekrempelt, für Jane allerdings war dieser Entschluss aus dem Nichts gekommen. Irgendwie dämmerte ihm langsam, dass er ihre Reaktion ein Stück weit nachvollziehen konnte. Immerhin war er ihr gegenüber nicht gerade fair gewesen.
Nach all den Jahren Ehe hätte er sich zumindest fair und sauber trennen können. Er hatte sich unmöglich verhalten.
Ein Klopfen an der Tür riss ihn aus seinen wirren Gedanken.
„Harry?"
Die Stimme seines besten Freundes klang in seinen Ohren wie flüssiger Honig; Balsam für seine geschundene Seele. „Hast du meine E-Mail gelesen?"
Harry schüttelte seinen Kopf und sah Liam mit großen Augen an. „Welche E-Mail? War es etwas wichtiges?"
Liam schloss die Tür hinter sich und sah ihn besorgt an. „Nein, gar nicht. Ich wollte nur wissen, ob wir heute zusammen zum Amtsgericht fahren wollen, ich hab zur gleichen Zeit eine Verhandlung, wie du. Zumindest stand das auf meinem Plan. Aber, Harry, geht es dir gut? Du siehst ziemlich blass aus und als wärst du irgendwie ... durch den Wind."
Harry seufzte und zuckte seine Schultern. „Ich habe mich von Jane getrennt", platzte es da plötzlich aus ihm heraus, und er konnte förmlich beobachten, wie Liam seine Gesichtszüge entglitten.
„Du hast was?"
„Ich habe mich von Jane getrennt", wiederholte der Anwalt und deutete seinem besten Freund und Kollegen mit einer Geste, ihm gegenüber an seinem Schreibtisch Platz zu nehmen.
„Im Ernst?", wollte Liam ungläubig von ihm wissen und schüttelte irritiert den Kopf. „Was ist mit Victoria?"
„Wir sind vorerst zu Louis gefahren", erklärte Harry und fuhr sich mit beiden Händen über das müde Gesicht. „Ich habe Jane alles erzählt, habe ihr erklärt, dass ich sie nicht mehr liebe und mich in einen Mann verliebt habe."
„Und wie hat sie reagiert?"
Harry verdrehte die Augen. „Du kennst sie doch", winkte er ab, „Natürlich hat sie mir sofort erklärt, du seist ein schlechter Einfluss für mich und du hättest mir zusammen mit Niall den Floh ins Ohr gesetzt, und nun würde ich mir einbilden, auf Männer zu stehen. Also nichts sonderlich neues."
Liam wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht. „Diese Frau ist doch absolut geisteskrank. Wo ist die stecken geblieben? Im Mittelalter?"
„Gut möglich", kommentierte Harry mit einem Grinsen im Gesicht und sah seinen besten Freund dann ernst an. „Ich glaube, ich habe sie wirklich verletzt, Liam. Ich habe sie so unfair behandelt."
Seufzend musste Liam nicken. „Du weißt, ich konnte sie noch nie leiden, aber in dem Punkt muss ich dir leider recht geben. Sie hätte es nach all den Jahren, in denen ihr zusammen wart, doch zumindest verdient gehabt, auf eine faire Art und Weise verlassen zu werden."
Er machte eine kurze Pause und sah Harry schließlich mit durchdringendem Blick an. „Wenn du ihr das schon antust, hättest du sie zumindest nicht betrügen dürfen. Stattdessen hättest du gleich mit ihr sprechen sollen."
Harry nickte und sah auf die zitternden Hände. „Ich weiß. Natürlich ist sie wütend und denkt, die Leute werden sich vor mir ekeln und meine Kanzlei nicht weiter besuchen."
Liam verdrehte erneut die Augen und schüttelte verständnislos den Kopf. „Denkst du das auch?"
Schulterzuckend und unsicher blickte Harry seinen besten Freund an. „Ich weiß nicht..."
„Mach dir darüber keine Gedanken", erklärte Liam und ging um den Tisch herum, um seinem besten Freund die Hand auf die Schulter zu legen. „Deine Sexualität hat nichts mit deiner Leistung als Rechtsanwalt zu tun. Ganz abgesehen davon, ist es deine Privatsache, was zu Hause in deinem Schlafzimmer passiert. Oder hast du schon einmal erlebt, dass sich ein Mandant über mich beschwert hätte, weil ich mit einem Mann zusammen lebe?"
Harry's Kopf schnellte nach oben. „Warte", unterbrach er Liam, „Zusammen leben? Ihr wohnt zusammen? Niall ist bei dir eingezogen?"
Liam nickte und spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. „Ja. Ich wollte dir davon erzählen, habe aber nie den passenden Zeitpunkt dafür gefunden."
Harry lächelte, während er gleichzeitig wünschte, sein Leben würde auch in so geregelten Bahnen verlaufen wie das seines besten Freundes. „Und wie geht es euch damit? Kommt ihr gut zurecht?"
Liam nickte. „Im Großen und Ganzen schon", erklärte er und nahm wieder auf dem Stuhl gegenüber Platz. „Allerdings mache ich mir irgendwie Sorgen um Niall. Er verhält sich seltsam."
Irritiert zog Harry beide Augenbrauen nach oben. „Seltsam? Inwiefern?"
„Er wirkt ziemlich niedergeschlagen", erzählte Liam und spürte, wie die Sorge sich in seinem Inneren wieder breiter machte. „Ich habe Angst, etwas falsch gemacht zu haben. Er will absolut nicht mit mir darüber sprechen."
Harry dachte einen Moment lang darüber nach, schüttelte dann allerdings entschlossen den Kopf. „Was solltest du denn falsch gemacht haben?"
„Ich weiß es nicht. Er spricht ja nicht mit mir."
Nachdenklich blickte Harry aus dem Fenster, eher er seinem Freund antwortete. „Ich glaube nicht, dass du der Grund dafür bist. Vielleicht solltest du ihm einfach Zeit lassen. Er wird zu einem passenden Zeitpunkt mit Sicherheit auf dich zukommen um mit dir darüber zu sprechen."
„Vielleicht hast du recht", murmelte sein Gegenüber und sah ihn dann ernst an. „Wir sind aber nicht hier, um über meine Beziehung zu sprechen. Was hältst du davon, wenn Niall und ich heute Abend ei euch vorbeikommen?"
„Bei Louis und mir?"
„Ja."
„Wozu?"
„Einfach so", gab Liam zur Antwort, „Ich glaube, es würde dir ganz gut tun, etwas Gesellschaft zu haben. Außerdem denke ich, dass Niall ein wenig Ablenkung - von was auch immer - ziemlich gut gebrauchen kann."
Harry nickte. „Meinetwegen gerne. Vielleicht wird das alles etwas auflockern."

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