Die Mädchen verschwanden rasch in Amy's Zimmer, um dort miteinander zu spielen und sich zu unterhalten. Louis seufzte und wich Harry's Blick geschickt aus. „Hast du Durst?"
Schüchtern nickte Harry. Louis begab sich in die Küche und öffnete ein Fenster. „Tee?"
Je mehr Zeit er in Louis' Wohnung verbrachte, desto klarer wurde ihm, dass Niall mit seiner Aussage keineswegs übertrieben hatte. Louis sah wirklich sehr mitgenommen aus; trotz allem - und Harry wusste nicht, ob das gut oder schlecht war - wirkte er auf ihn noch immer attraktiv.
Während Louis Wasser für den Tee kochte, stand Harry unbeholfen neben ihm, und so suchte er fieberhaft nach einem Satz, mit dem er ein unbefangenes Gespräch anfangen konnte. „Wie...", fing er an, und vollendete den Satz noch ehe er bemerkte, wie bescheuert er eigentlich klang „Wie geht es dir?"
Louis ließ die beiden Tassen sinken, die er in den Händen hielt und sah dem Anwalt direkt in die smaragdgrünen Augen. „Super", gab er mit vor Ironie triefender Stimme zurück, „Sieht man das nicht?"
Seufzend trat Harry ein Stück näher, ohne sich dabei darüber im Klaren zu sein, dass Louis das vielleicht gar nicht wollte. „Es tut mir leid", sagte er also, ohne seinen Blick von Louis zu nehmen. „Ich wollte dich nicht-"
„Spar's dir", unterbrach der Lehrer ihn mit scharfer Stimme, „Bringen wir diesen Besuch einfach hinter uns."
Mit diesen Worten goss er das heiße Wasser in die beiden Tassen und bereitete für die Mädchen zwei Tassen Kakao zu, ehe er einige Kekse auf ein Teller richtete. Harry stand unbeholfen neben ihm und seufzte. „Kann ich dir irgendwie helfen?"
„Nein", gab Louis kühl zurück, ohne Harry auch nur eines Blickes zu würdigen.
Es fiel ihm schwer, den Anwalt anzusehen; den Menschen in den müden Blick zu fassen, der ihn so sehr verletzt hatte. Den Menschen, der trotz allem noch immer so perfekt aussah, so verdammt attraktiv auf ihn wirkte - als wäre gar keine Zeit vergangen.
Nachdem Louis den Tisch gedeckt hatte, rief er die Mädchen aus Amy's Zimmer zu sich. Er ließ sich Harry gegenüber nieder, während ihre Töchter sich angeregt miteinander unterhielten. „Daddy, ich habe dir ja noch gar nicht von dem neuen Mädchen in unserer Gruppe erzählt!", sprudelte es da plötzlich aus Amy hervor, „Ihr Name ist Cécile und sie kommt aus Paris!"
Verblüfft zog Harry beide Augenbrauen nach oben, während Louis seine Tochter lächelnd musterte. „Tatsächlich?", fragte er, während er ihr eine Strähne des blonden Haares aus dem Haar strich. Allein diese Geste ließ Harry's Herz ganz weich werden.
„Ja", bestätigte Victoria und nickte. „Und sie redet ganz komisch."
„Sie muss unsere Sprache erst lernen", erklärte Harry und nahm einen Schluck aus seiner Tasse Tee. „So würde es dir auch gehen, wenn du plötzlich in Frankreich leben müsstest."
Amy strahlte. „Aber sie ist so nett!"
„Während ich in Frankreich studiert habe, wurde ich auch immer wegen meines Akzents belächelt", erzählte Louis mit einem wehmütigen Lächeln im Gesicht. „Natürlich war das nur Spaß - ich hatte eine wirklich wunderschöne Zeit in Paris."
Victoria's Blick lag voller Bewunderung auf ihm. „Du hast in Paris studiert?"
Louis nickte. „Wo lernt man die Sprache besser als in der Hauptstadt?"
„Wow", machte Victoria und schluckte ihren Keks hinunter. „Wie cool!"
„Ja", pflichtete Amy ihr bei, „Ich hab den coolsten Daddy der Welt!"
Entschieden schüttelte Victoria den Kopf. „Nein, ich!"
Grinsend nahm Harry einen weiteren Schluck aus seiner Tasse und beobachtete Louis dabei, wie er das gleiche tat.
Er fühlte sich noch immer so hingezogen zu ihm, und aus irgendeinem Grund war diese Anziehung viel stärker als die zu seiner Frau. Die Anziehung zu Jane fühlte sich ein bisschen an wie Gewohnheit, sie war halt einfach da, weil sie das schon immer gewesen war.
Die Anziehung zu Louis fühlte sich irgendwie ... ehrlicher an.
Aber war das nicht normal? Dass Verliebtheit anfangs immer intensiver war, als die Liebe, die man zu jemandem verspürte, den man schon so lange kannte?
Würde er es bereuen, wenn er sich für Louis entscheiden würde, weil ihm irgendwann klar werden würde, dass die Verliebtheit allein aus Aufregung und dem Reiz bestanden hatte, etwas neues zu erleben? Etwas verbotenes zu tun?
Harry konnte gar nicht glauben, dass er Louis in seinem eigenen Wohnzimmer gegenübersaß und darüber nachdachte, ob er ihm das Herz erneut brechen sollte.
„Paris ist wunderschön", erzählte Louis also den Kindern, während auch er nach einem Keks griff. „Eine ganz besondere Stadt."
„Ich möchte auch mal nach Paris!", rief Victoria aus und klatschte aufgeregt in die Hände. „Was ist daran denn so besonders?"
Interessiert lauschte Harry Louis' Erzählungen, gespannt darauf, wie er Paris beschreiben würde.
Er war nahezu gebannt von Louis' Gesichtsausdruck - er sah so unbekümmert und glücklich aus.
Eine Wärme umspielte Harry's Herz. Eine Wärme, die er so noch nie verspürt hatte.
Louis lächelte und ihm war deutlich anzusehen, dass er in schönen Erinnerungen schwelgte. „Einfach alles", sagte er und sah Harry's Tochter sanft an. „Das ist, als würdest du inmitten der Geschichte Europas stehen. Es fühlt sich an wie...", Louis lächelte. „Wie eine andere Zeit."
Die Mädchen bekamen ganz große Augen. „Fahren die Leute denn dort noch mit Kutschen?"
Einen Moment lang vergaß Louis seine Sorgen, als er die erstaunten Blicke der Mädchen sah und lachte laut auf. „Nein", antwortete er schließlich, „Nein, auch Franzosen besitzen Autos."
„Wenn auch ziemlich schlechte", kommentierte Harry und trank einen Schluck Tee.
Louis zog beide Augenbrauen nach oben und sah ihn forschend an. „Nur weil du einen fetten SUV fährst, der die ganze Stadt verpestest, müssen französische Autos nicht unbedingt schlecht sein."
Der Anwalt hob abwehrend beide Hände. „Ist ja gut", verteidigte er sich, „Ich wollte dich nicht angreifen."
„Schon gut", gab Louis ironisch zurück, „Als Anwalt kann man sich schließlich alles erlauben, und wenn es noch so überheblich ist."
Fassungslos sah Harry den Lehrer über den Tisch hinweg an. Seine Worte trafen ihn doch mehr, als er gedacht hätte; Louis sollte doch ganz genau wissen, dass er auf materielle Dinge keinen Wert legte. „Es war nur ein Spaß, Louis, okay?", erklärte er schließlich, „Komm wieder runter."
Augenrollend stand Louis vom Tisch auf und stellte die Tassen in die Spüle.
„Nicht streiten", schmollte Amy, „Ich will doch, dass ihr euch lieb habt."
Louis' Herz brach bei dem niedergeschlagenen Klang ihrer Stimme. Er ging einige Schritte zu und legte ihr den Arm um die Schultern. „Es tut mir leid, Kleine."
Er küsste ihre Stirn und lächelte sie schließlich an. „Es wird nicht wieder vorkommen."
Amy nickte und stand ebenfalls auf. „Komm, Vic, wir müssen doch noch weiterspielen!"
Vergnügt nickte Harry's Tochter und folgte ihrer Freundin in deren Schlafzimmer. Schließlich beobachtete der Anwalt Louis dabei, wie er das Geschirr in die Küche brachte und die restlichen Kekse wieder zurück in die Dose gab.
Er stand auf und spürte, dass seine Beine ganz weich waren. Sein Herz schlug plötzlich viel schneller, und er fühlte sich, als würde er jeden Moment wieder zurück auf den Stuhl plumpsen, von dem er gerade aufgestanden war.
Louis' Worte über Paris hingen in seinen Gedanken fest, und er konnte sich nicht helfen; er stellte sich vor, wie er mit dem Lehrer durch die französische Hauptstadt schlendern und all die Dinge genießen würde, die Louis so sehr an Paris liebte.
Der Gedanke daran ließ wieder diese Wärme in ihm aufsteigen - die Wärme, die er so in seinem gesamten Leben noch nie verspürt hatte; die Wärme, die seine Knie ganz weich werden ließ.
Er ging einige Schritte auf Louis zu und berührte vorsichtig dessen Handgelenk, ehe er ihn vorsichtig zu sich drehte. Wieder spürte er die atemberaubende Wirkung des Zusammentreffens von blau und grün - und diese unbeschreibliche Wärme. „Fahr mit mir nach Paris, Louis."
DU LIEST GERADE
Animus
Hayran KurguLouis und Harry haben Eins gemeinsam. Sie haben beide jeder eine fünfjährige Tochter. Der Eine lebt mit seiner Frau das Leben in einer angesehen Gesellschaftsschicht, der andere kämpft sich als Lehrer und alleinerziehender Vater durch die Mittelschi...