Überraschung

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Harry brachte den Termin vor Gericht irgendwie hinter sich. Er hatte sich wirklich Mühe gegeben, hatte seinen Job so gut es ging getan und glaubte, dass sie die Verhandlung gewonnen hatten, auch wenn das Urteil noch ausstand.
Für die kommende Woche würde der Fall noch einmal vorstellig werden, aber Harry war sich seiner Sache eigentlich ziemlich sicher.

Als er dann allerdings seine Tochter aus dem Kindergarten abholte, wurde ihm das Kommende schlagartig bewusst und seine Übelkeit kam wieder.
Anders als geplant fuhr er mit Vic nicht erst zur Reitstunde, sondern in ein kleines Restaurant, indem er mit seiner Tochter eine Kleinigkeit zu Mittag aß, ehe sie sich auf den Weg zu Louis und Amy machten.
Meter für Meter , den er dem Wohnkomplex näher käme,  wurde ihm immer schlechter. Seine Hände schwitzen und allgemein ging es ihm Hundeelend.
Vic hingegen war aufgeregt und voller Vorfreude endlich wieder mit ihrer besten Freundin spielen zu können, aber selbst das konnte Harrys Laune und Gefühle nicht aufheitern.
Der Wagen hielt letztendlich auf einem Parkplatz und nervös schloss Harry seine Augen.
Gleich würde er Louis wieder sehen.
Louis, den er so sehr vermisst hatte in den wenigen Tagen.
Oh ja - und wie er ihn vermisst hatte.
Aber Harry war so durcheinander. Erst Recht nach Liams Worten.
Das hatte alles irgendwie noch einmal in ein neues Licht gerückt und brachte den Anwalt noch mehr durcheinander als er ohnehin schon war.

„Papa kommst du?".
Amy hatte sich bereits abgeschnallt und sah ihren Vater bittend an.
„N-natürlich".
Zitternd öffnete Harry die Tür des Wagens und freudestrahlend griff das Mädchen mit den Locken die Hand ihres Vaters und hüpfte neben ihm den Gehweg zum Wohnkomplex entlang.
Die Übelkeit in Harry stieg stetig an und sein schlechtes Gewissen gepaart mit der Aufregung endlich Louis wieder zu sehen, brachte Harry fast dazu wieder umzukehren. Doch das konnte er Vic nicht antun.

Als er die Klingel betätigte und die Tür das bekannte Summen von sich gab, war Harry nervlich so am Ende, dass er den Tränen nahe war.
Und das sollte etwas heißen.
Harry weinte eigentlich nie. Es brauchte eine ganze Menge um den Anwalt an den Rand seiner Beherrschung zu bringen und anscheinend war jetzt dieser Zeitpunkt gekommen. Es wurde Harry einfach alles zu viel.
Die Lügen, das unfaire Verhalten Jane und vor allem Louis gegenüber, die Geheimniskrämerei und die verwirrenden Gefühle für seine Frau und für Louis.
Es wuchs ihm alles über den Kopf und verzweifelt suchte er nach einem Ventil um den Druck abzulassen, doch ihm gelang es nicht. Er kam einfach zu keiner vernünftigen Lösung und Liams Worte brachten alles wieder durcheinander.

Harry bemerkte nicht wie er die Wohnung fast erreicht hatte. Wie von alleine waren seine Füße Treppenstufe für Treppenstufe hinaufgegangen, ohne das der Anwalt es bemerkt hatte. Erst als er Louis' Stimme hörte, hielt er in seiner Bewegung inne und gefror förmlich zu Eis.
„Vic? Was machst du denn hier?".

Nervös schluckte Harry den dicken Kloß in seinem Hals herunter, ehe er die letzten Stufen hinter sich brachte und auf der Schwelle zu Louis' Etage stehen blieb.
Er konnte sich keinen Meter mehr bewegen, so sehr war er eingenommen von dem Anblick der sich ihm bot.
Niall hatte wirklich nicht übertrieben, als er sagte das es Louis schlecht ging.
Tiefe Augenringe zierten das sonst so makellose Gesicht des Lehrers gepaart mit einem Bart, der darauf hindeutete, dass Louis sich einige Zeit schon nicht mehr rasiert hatte. Sein Körper steckte in einer alten Jogginghose, sein Pullover war zerknittert und schien wahllos aus dem Wäschehaufen genommen zu sein.
Seine sonst so fluffigen Haare hingen ihm in wirren Strähnen glanzlos vom Kopf und erneut merkte Harry, wie er mit den Tränen kämpfen musste.
Das war allein seine Schuld.
„Harry".
Mehr als ein leises Hauchen war nicht aus Louis' Mund zu hören, trotzdem hatte Harry seinen Namen gehört und riss seinen Blick von Louis Beinen, sah dem Lehrer stattdessen wieder in das Gesicht.
Der Schock stand Louis in das Gesicht geschrieben und irgendwie bekam Harry gerade das Gefühl, dass Amy vielleicht vergessen hatte mit ihrem Vater über das Spieldate zu reden.
Langsamen Schrittes kam der Anwalt auf den Lehrer zu, der Harry wie einen Geist ansah und den Türknauf in seiner Hand mit aller Kraft umschloss, damit er nicht umkippte.
„W-warum bist du hier?", wollte der Braunhaarige leise wissen, als Harry vor ihm stehen blieb und der Klang seiner kraftlosen Stimme ihm einen Schauer über den Rücken jagte.
„Ich-", begann er, wurde allerdings von Amy und Victoria unterbrochen, die sich zwischen ihre Väter stellten und laut und freudig „ÜBERRASCHUNG!" riefen.

„Ich - Überraschung?". Fassungslos sah Louis die Mädchen an, die aus dem Grinsen nicht mehr heraus kamen.
Wahrlich, das hier war eine Überraschung, aber Louis freute sich nicht wirklich darüber. Ihm ging es schon schlecht genug, da brauchte er jetzt nicht auch noch den Grund für seinen Kummer vor sich haben.
„Naja, du bist doch krank und wir haben uns gedacht, dass du dich ein bisschen besser fühlst, wenn du Harry siehst. Immerhin seid ihr Freunde und habt euch Lieb und bei mir hilft das immer", stellte Amy klar und sah ihren Vater lächelnd an.

Immerhin seid ihr Freunde und habt euch Lieb.

Louis traute seinen Ohren nicht und musste sich wirklich zusammen reißen.
Natürlich war es lieb gemeint von seiner Tochter und er fand es rührend, wie sehr sie sich um ihn sorgte, doch das hier - nein das war wirklich nicht gut.
Der Schmerz in seiner Brust war mit einem Mal so stark, dass ihm fast die Luft weg blieb.

„Vic! Ich dachte Louis weiß hiervon". Harry sah seine Tochter schockiert an, die ihrem Vater ein entschuldigendes Lächeln schenkte.
„Wir wollten das es eine Überraschung für Louis wird. Du solltest nicht vorher mit ihm sprechen und dich verplappern".
Verplappern?
„Vic".
Harry seufzte und sah überfordert zu Louis, der das ganze irgendwie nicht zu kapieren schien. Seine Augen huschten zwischen den Mädchen und Harry hin und her, bis er ein tiefes Seufzen von sich gab und einen Schritt zur Seite machte.
„Was solls. Jetzt seid ihr ja hier und dann können die Mädchen ja auch spielen."

Kichernd eilten die Mädchen in die Wohnung. Harry hingegen blieb unsicher im Treppenhaus stehen und mied es, Louis in die Augen zu schauen.
„Ich - ich kann auch gehen und-"
„Komm einfach rein", unterbrach Louis den Anwalt und verschwand ebenfalls in der Wohnung. Kurz haderte Harry mit sich, seufzte dann geschlagen und folgte Louis in die Wohnung.

Wenn er das vorher gewusst hätte, hätte er Victoria doch lieber zum Reitunterricht gebracht.

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