Mal sehen

4.3K 531 61
                                    

Nachdem beide Männer zusammen zum Gericht gefahren waren, hatte er Louis gebeten, sich die Sache durch den Kopf gehen zu lassen. Natürlich hatte der Lehrer nichts dagegen, auch wenn er die Zeit lieber mit Harry allein verbracht hätte.
Trotz allem allerdings freute Harry sich auf den bevorstehenden Abend. Immerhin war das ein kleiner Lichtblick, der ihn für einen Moment aus dem Dunkel dieser schier aussichtslosen Situation zu holen versprach.
Nachdem er den Termin vor Gericht - Gott sein Dank erfolgreich - hinter sich gebracht hatte, stieß er ein tiefes Seufzen aus.
Er wusste, was nun bevorstand. Und er freute sich ganz und gar nicht darüber.
Louis hatte ihm angeboten, die Mädchen aus dem Kindergarten zu holen, damit er noch einmal in Ruhe mit Jane sprechen konnte. Immerhin war er ihr zumindest das schuldig, und er konnte sich schon jetzt denken, dass sie noch immer auf hundertachtzig war. Verständlicherweise.
Ein normales Gespräch schien unmöglich, und er war einfach nur froh, dass Victoria bei Louis und Amy war, damit sie das nicht mitbekommen musste.
Immerhin sollte sie nicht hören, wie ihre Eltern sich stritten. Auch wenn Harry immer versuchte, seine Frau nicht anzuschreien, fiel ihm das manchmal doch sehr schwer und gelang ihm nicht immer.
Also fuhr er zu seiner Frau nach Hause und war sehr überrascht, als sie ihm ungeschminkt die Tür öffnete. Sie sah aus wie ein Häufchen Elend.
Unter ihren Augen hatten sich dunkle Schatten gebildet, und sie sah schrecklich übermüdet aus. Einen Moment lang fühlte Harry sich verdammt schlecht, weil er ganz genau wusste, dass er der Grund für ihren Zustand war.
Dann allerdings erinnerte er sich an all die schrecklichen Aussagen, die sie gestern über homosexuelle Menschen getroffen hatte, und vor allem, daran, dass sie diese Meinung niemals überdenken würde.
Also trat Harry kommentarlos, ohne jede Begrüßung, in das Haus ein, putzte sich die Schuhe auf der Matte ab, um weitere bissige Kommentare zu vermeiden und zog sie sich schließlich aus.
Er spürte, dass die Luft zum zerreißen gespannt war, während er den Mantel and die Garderobe hing und seine Aktentasche gegen die Wand lehnte.
Jane stand mit verschränkten Armen neben ihm und beobachtete jede seiner Bewegungen ganz genau.
„Und?", keifte sie und schien dabei nicht die Absicht zu verfolgen, sich zusammenzureißen. „Wie war's gestern? Hat er dich ordentlich rangenommen?"
Harry riss entsetzt beide Augen auf und sah seine Frau ungläubig an. „Wie bitte?"
„Du hast mich schon verstanden."
Harry konnte nicht glauben, dass Jane - die sonst so auf eine feine Art bedacht war - so mit ihm sprach. Und er konnte auch nicht glauben, dass er mit dieser Frau tatsächlich ein Kind in die Welt gesetzt hatte.
„Denkst du nicht, es wäre besser, die Sache sachlich zu klären?", warf er schließlich in den Raum, als er in Richtung Wohnzimmer ging und augenblicklich feststellte, dass sie ihm folgte wie ein Magnet.
Was für ein Post-It, hatte Liam immer gesagt.
Harry musste bei der Erinnerung an diesen Spruch grinsen und war froh, ihr den Rücken zugewandt zu haben. Ansonsten wäre in diesem Haus ein waschechter dritter Weltkrieg ausgebrochen.
„Du bist so widerlich", fauchte Jane und packte ihn an der Schulter, um ihn zu sich herumzureißen. „Wie konntest du das nur tun? Deine eigene Familie so im Stich lassen?"
„Moment mal", unterbrach Harry ihren Wutanfall und hob abwehrend beide Hände. „Kein Mensch hat hier irgendetwas davon gesagt, dass ich dich oder die beiden Kinder im Stich lassen werde. Das werde ich natürlich nicht tun; du kannst dich selbstverständlich noch immer jederzeit bei mir melden und brauchst dir um das Finanzielle absolut keine Gedanken zu machen."
Jane schüttelte entschlossen den Kopf. „Geld ist nicht alles, Harry."
Zornig riss der Anwalt beide Augen auf und sah sie mit einem Ausdruck in den Augen an, der mit Worten nicht zu beschreiben war. Verwirrung reichte dafür absolut nicht mehr aus, ebenso wenig wie Wut oder Zorn. „Ist das dein Ernst?", wollte er schließlich, jetzt auch etwas lauter, von ihr wissen. „Dieser Satz kommt ausgerechnet von dir?"
„Natürlich kommt dieser Satz von mir", zischte sie und sah ihn wütend an. „Du scheinst ja an nichts anderes zu denken."
„Wie bitte?"
„Denkst du wirklich, du kannst mich mit ein bisschen finanzieller Unterstützung ruhig stellen?"
Harry warf entmutigt beide Hände in die Luft. „Wovon redest du überhaupt?"
„Ich bin schwanger, Harry, verdammt nochmal", sagte Jane und war nun den Tränen nahe. „Ich kann doch nicht zwei Kinder alleine großziehen. Dafür ist mehr als etwas Geld nötig. Ein Kind braucht seinen Vater."
Harry schüttelte seinen Kopf und sah seine Frau irritiert an. „Aber ich habe doch auch nie etwas anderes behauptet oder dir damit gedroht, dir und den Kindern das zu verwehren."
Jane rollte beide Augen. „Du glaubst doch nicht ernstlich, dass das funktionieren wird. Solche Dinge zerstören die Seele kleiner Kinder."
Angesichts Jane's theatralischer Ausführung musste Harry mit den Augen rollen. „Es gibt genug Familien, in denen die Eltern der Kinder in Trennung leben, und es funktioniert wunderbar."
„Das ist aber nicht der Sinn einer Familie."
„Verdammt, Jane", fluchte Harry, bemühte sich trotz allem aber um einen ruhigen Ton. „Im Leben läuft nun einmal nicht immer alles so, wie man sich das vorstellt."
Nun liefen seiner Frau die Tränen über das schmale Gesicht. „Du weißt gar nicht, was du uns damit antust."
Obwohl Harry gerne behauptet hätte, dass sie übertrieb, um sein Gewissen zu beruhigen, aber das wäre gelogen. Er konnte nicht abstreiten, dass er seiner schwangeren Frau das Herz gebrochen hatte und seine Tochter ihn vermutlich auf ewig dafür verabscheuen würde.
Immerhin hatte er auch Victoria damit ziemlich weh getan und konnte nicht einfach die Augen davor verschließen.
„Es tut mir leid", sagte Harry also, obwohl er ganz genau wusste, dass das absolut nichts wieder gut machen würde. Es gab nichts, was sein Verhalten entschuldigen oder gar wettmachen konnte. „Aber wir müssen zusammen eine Lösung finden, mit der alle Beteiligten leben können."
Jane schluchzte auf, und Harry hatte einen Moment lang tatsächlich Mitleid mit ihr.
Entmutigt ließ die rothaarige Frau sich auf das Sofa sinken und legte den Kopf in die zierlichen Arme. „Das geht zu weit, Harry. Für solche Dinge gibt es keine Lösung."
„Es gibt für alles eine Lösung", widersprach Harry und setzte sich neben sie, während er dem Drang widerstehen musste, sie aus Gewohnheit in den Arm zu nehmen.
Andererseits - war es wirklich verboten, sie jetzt zu trösten, wenn er schon der Grund für ihr Elend war?
„Du redest dich leicht", sagte Jane und schüttelte noch immer weinend ihren Kopf. „Für dich ist das ganze immerhin um einiges leichter zu ertragen, als für mich."
Obwohl Harry ihr recht geben musste, änderte das nichts an der Tatsache, dass sie sich irgendwie arrangieren musste. „Victoria wird vorerst bei mir leben. Dann kannst du dich in aller Ruhe um dich selbst und deine Schwangerschaft kümmern."
Jane nickte und stieß ein tiefes Seufzen aus, während ihr langsam dämmerte, dass sie sich mit der Situation abfinden musste. „Gut. Aber sobald die Situation geklärt ist, wird sie wieder hier einziehen. Ein Kind braucht seine gewohnte Umgebung."
Harry schüttelte innerlich den Kopf. Nur über seine Leiche.
„Mal sehen", sagte er stattdessen und stand auf. „Wir sehen uns."

AnimusWo Geschichten leben. Entdecke jetzt