Sie vertieften sich in den Kuss. Beide.
Harry war überrascht von dem Kribbeln, das sich in seinem gesamten Körper ausbreitete, als seine Lippen die von Louis berührten - es war ein unschuldiger Kuss, er war beinahe schüchtern, als wären sich beide Männer nicht sicher, ob er nicht ein Versehen gewesen war.
Ein Versehen, bei dem Harry Louis' Gesicht noch immer in seinen Händen hielt und ihn nun vorsichtig näher zu sich zog.
Zögerlich legte Louis seine Hand an Harry's Hüfte und spürte, wie dieser zögerlich mit seiner Zunge gegen Louis' Lippen stieß. Ein Lächeln bildete sich auf dessen Lippen, bevor er ihm Einlass gewährte. Atem und Puls beider Männer beschleunigten sich gleichermaßen.
Das Gefühl ihrer Lippen, wie sie aufeinander lagen und sich in absolutem Einklang miteinander bewegten, ließ die Körper beider Männer vor wohligen Gefühlen zittern. Als ihre Zungen einander berührten, entrang sich Louis' Brust ein leises Seufzen, was Harry nur dazu veranlasste, ihn noch enger an sich zu drücken.
Meine Güte. Es war lange her, dass er sich so sehr zu jemandem hingezogen gefühlt hatte - falls er sich überhaupt jemals so gefühlt hatte.
Louis festigte seinen Griff um die Hüfte des Anwalts und spürte, dass Harry in den Kuss hinein lächelte - so sanft, und so ehrlich, dass er keine Sekunde länger mehr daran zweifelte, dass das hier nicht einfach passiert war.
Auch Harry konnte nicht verhindern, dass sich seiner Kehle ein geräuschvolles Ausatmen entrang, als langsam aber sicher die Erkenntnis zu ihm durchsickerte, dass das kein Versehen gewesen war.
Er spürte, dass Louis' Hand zu seiner Brust wanderte, als-
Ein schrilles Klingeln riss ihn aus seinen Gedanken. Erschrocken fuhren die beiden Männer auseinander und sahen sich einen Moment lang an, als würden sie nicht begreifen, was hier gerade passiert war.
„Scheiße", murmelte Harry, während er sein klingelndes Telefon aus der hinteren Hosentasche zog. Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals.
Er fühlte sich ertappt, obwohl niemand sie gesehen hatte.
Als Jane's Name auf dem Display aufleuchtete, ließ er entmutigt beide Schultern hängen. Er fühlte sich so unwohl, dass er am liebsten im Erdboden versunken wäre.
Sofort breitete sich wieder ein schlechtes Gewissen in seinem Kopf aus und ergriff Besitz von seinem ganzen Körper, als seine Beine langsam nachgaben und er sich auf den Stuhl fallen ließ, von dem er vorher aufgestanden war.
„Jane?", hob er schließlich ab, „Was ist denn los, Liebling?"
Er ignorierte Louis' Blick und sah ihn absichtlich nicht an - er konnte es einfach nicht.
„Weißt du eigentlich, wie spät es ist?", zischte sie ohne große Begrüßungsformeln oder sonstige Umschweife in den Hörer, „Wo zur Hölle steckst du? Und wo ist Victoria? Das Ballett war vor zwei Stunden zu Ende!"
Erschrocken zuckte Harry zusammen und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Scheiße. Natürlich musste sie längst von ihrem Tag im Spa zurück sein. Es war fast sieben Uhr.
„Ähm", stammelte er, während er fieberhaft nach einer Ausrede suchte. Was sollte er ihr schon sagen? Dass er hinter ihrem Rücken mit Victoria zu ihrer Freundin gefahren war und eben ihren Vater geküsst hatte?
„Ich musste nochmal zurück in die Kanzlei", log er also, während er ganz genau hörte, wie seine Stimme zitterte. „Ich hab Vic nur eben mitgenommen, damit ich nicht den weiten Umweg nach Hause fahren musste."
„Victoria", presste Jane wütend hervor, „Sie heißt Victoria."
Harry sollte seine Augen. Dieses Mal nicht nur innerlich. „Ist ja gut", sagte er schließlich, „Wir machen uns sofort auf den Weg. Ich bin eben fertig geworden."
„Ich glaub das einfach nicht!", kreischte Jane auf der anderen Seite der Leitung und Harry konnte förmlich sehen, wie sie sich durch die perfekt gemachten Haare fuhr. „Du hättest mir wenigstens Bescheid sagen können!"
„Du hast recht", gestand Harry, in der Hoffnung, das würde sie beruhigen. „Es tut mir leid. Wir sind in einer Stunde zu Hause."
„Eine Stunde!", Harry hörte, wie sie sich entsetzt auf einen Stuhl fallen ließ. Verdammt. Er hatte vergessen, dass er von der Kanzlei nach Hause nur etwa eine halbe Stunde nach Hause brauchte. „Zuerst kommst du heute Morgen sternhagelvoll nach Hause und jetzt hältst du es noch nicht einmal mehr für nötig, mir zu sagen, wenn du später nach Hause kommst! Ist das denn zu viel verlangt?"
„Nein, natürlich nicht, Liebling. Ich habe die Zeit vergessen."
„Das sehe ich selbst", zischte sie, „Ich warte seit einer halben Stunde mit dem Essen auf euch! Seit einer halben Stunde!"
Jane war so aufgebracht, dass selbst Louis, der zwei Meter entfernt von ihm stand, ihre vor Zorn bebende Stimme hören konnte. „Ich weiß, Jane, es tut mir leid", wiederholte Harry also nun zum gefühlt zehnten Mal und fuhr sich entnervt durch das schulterlange Haar.
„Du kommst jetzt sofort nach Hause!"
„Verdammt, Jane!", schrie er zurück, jetzt auch zornig. „Reg dich ab! Ich war arbeiten!"
Er betonte das letzte Wort so energisch, dass sie sofort nach Luft schnappte. „Was soll das denn bitte heißen?", fauchte sie aufgebracht zurück.
„Irgendwer muss das ja machen. Du hältst es ja nicht für nötig, arbeiten zu gehen", zischte Harry in den Hörer und fragte sich, was Louis sich wohl gerade dachte. Wahrscheinlich wollte er das gar nicht wirklich wissen.
„Harold! Wie redest du eigentlich mit mir?"
Aufgebracht fuhr Harry sich über das vor Wut gerötete Gesicht. Ohnehin gereizt von dem Kuss, seinem damit einhergehenden schlechten Gewissen und seiner eigenen Verwirrung, stand er auf und schlug mit der flachen Hand auf Louis' Tisch. „Wie redest du eigentlich mit mir? Wer bist du? Meine Mutter?"
Jane seufzte resigniert auf. „Du bist wirklich ein Idiot, Harry."
„Entschuldigung?"
„Du hast mich schon verstanden", plötzlich klang sie gar nicht mehr wütend, sondern schlicht enttäuscht. „Und jetzt sieh zu, dass du nach Hause kommst."
Mit diesem Satz beendete sie das Gespräch und Harry ließ das Telefon in seiner Hand sinken und starrte fassungslos darauf.
War das ihr Ernst?
Er hob seinen Blick, um Louis anzusehen, bereute es aber schon in der nächsten Sekunde: Der Lehrer stand unsicher vor ihm, beide Arme um den zitternden Körper geschlungen. In seinem Blick mischten sich Verwirrung, Schmerz und die Frage, was zur Hölle hier eigentlich gerade passiert war.
Harry wand sich schnell ab und steckte sein Telefon wieder ein. „Wir müssen gehen, Louis. Danke für den Tee."
Danke für den Tee?
Er war wirklich ein Idiot.
Louis sagte nichts, weil ihm die Worte - all die unausgesprochenen Fragen - im Hals stecken blieben. Gott sei Dank wurde ihm diese Aufgabe abgenommen: Beide Mädchen standen plötzlich fragend hinter ihnen und Victoria sah bekümmert aus. „Ist alles in Ordnung, Daddy?"
Harry beugte sich lächelnd zu seiner Tochter herunter und legte ihr den starken Arm um die Schultern. „Natürlich, meine Kleine. Wir müssen aber langsam nach Hause gehen. Verabschiedest du dich noch von Louis und Amy?"
Victoria nickte und sah ihn trotz allem noch immer beunruhigt an. „Wen hast du eben so angeschrien?"
Harry sah betroffen zu Boden und fühlte sich mit einem Mal noch viel schlechter als noch zuvor. Er hätte sich zusammenreißen müssen, schon allein seiner Tochter zuliebe. „Nur einen Arbeitskollegen, Liebes", log er schließlich, und fragte sich währenddessen, ob es richtig war, seine eigene Tochter anzulügen. „Nichts schlimmes, es geht nur um eine kleine Meinungsverschiedenheit. Na los, pack deine Sachen."
Victoria's Miene hellte sich zwar wieder auf, allerdings war ihr noch immer deutlich anzusehen, dass sie schockiert war von dem lauten Ton ihres Vaters und sich noch immer fragte, was ihn wohl so wütend gemacht hatte.
Während Amy Victoria half, deren Sachen zu packen, standen Harry und Louis unschlüssig nebeneinander und sprachen kein Wort - es war eine andere Stille als noch vorhin. Diese Stille war unangenehm, mehr als das. Diese Stille war richtig erdrückend.
„Bis morgen!", rief Victoria Amy zu und ließ Harry's Hand noch einmal los, um ihre Freundin ein letztes Mal zu umarmen. Harry musste lächeln.
„Na los, Vic, ihr seht euch doch morgen schon wieder", sagte er sanft und nahm ihren pinken Rucksack in seine Hand. Mit der anderen rückte er sich seine Krawatte zurecht. Draußen dämmerte es bereits. „Auf Wiedersehen, Louis."*
Während Harry den Erzählungen seiner Tochter lauschte, glitten seine Gedanken immer wieder zu seiner Frau ab. Er hasste Streit und er wusste, dass er ihr hätte Bescheid sagen müssen. Natürlich hatte sie sich Sorgen gemacht und sich gefragt, wo um alles in der Welt sie um diese Uhrzeit noch waren. Sie waren noch nie so spät nach Hause gekommen.
Es tat ihm leid, dass er sie angeschrien hatte.
Vor allem aber tat es ihm leid, dass er sie vor seiner eigenen Tochter angeschrien hatte, auch wenn diese davon nichts zur wissen schien.
Er wollte nicht mit Jane streiten - er liebte sie, und er wünschte sich sehnlichst, dass dieser Streit wieder aus der Welt geschaffen wurde.
Unwillkürlich musste er bei dem Gedanken an Jane auch an den Kuss zwischen Louis und ihm denken - was hatte das zu bedeuten? Und hatte es überhaupt etwas zu bedeuten?
Was - zur Hölle - hatte ihn nur geritten, den Vater von Victoria's bester Freundin zu küssen? Und auch nicht damit aufzuhören, nachdem ihm klar geworden war, was da gerade passierte?
Und was hatte dieses angenehme, warme Kribbeln zu bedeuten, das sich in seinem ganzen Körper ausgebreitet und es ihm unmöglich gemacht hatte, sich von ihm zu lösen?
„Papa?", riss Victoria ihn aus seinen Gedanken, als sie an einer Ampel standen und darauf warteten, dass sie nach der zehntausendsten Grünphase die Kreuzung überqueren konnten.
„Ja, Vic?", grinste er zu ihr herüber, bevor er sah, dass die Ampel schaltete.
„Ist Mommy sauer, weil wir heute so lange weg waren?"
Harry rutschte das Herz in die Hose.
Hatte sie etwa doch mehr mitbekommen, als er gedacht hatte?
Wieder breitete sich das schlechte Gewissen in ihm aus. Weil er Jane angeschrien hatte, weil er seine Tochter angelogen hatte, weil er Louis geküsst hatte - einfach, weil dieser Tag ein komplettes Desaster gewesen war.
„Ein wenig", gab er schließlich zur Antwort, um sie nicht wieder anlügen zu müssen. Schließlich aber lächelte er. „Was hältst du denn davon, wenn wir noch kurz anhalten und Mommy Blumen mitbringen?"
Sofort hellte sich Victoria's Gesicht wieder auf. „Ja!", rief sie begeistert aus, „Darf ich sie aussuchen?"
„Aber selbstverständlich, meine Kleine", lächelte Harry und spürte, wie ihm ein Stein vom Herzen fiel.
Er hielt also am nächsten Blumengeschäft kurz an, das eben dabei war, zu schließen. Mit etwas Überredungskunst und Victoria's unwiderstehlichem Lächeln schafften sie es also, die Mitarbeiterin davon zu überzeugen, ihnen noch einen Strauß roter Rosen zu verkaufen, den Victoria stolz ausgesucht hatte. „Die werden Mommy sicher gefallen!", rief sie und hielt ihn Harry unter die Nase.
Lächelnd nahm Harry seiner Tochter den Strauß aus der Hand und ging damit zur Kasse.
„Haben Sie etwas wieder gut zu machen?", grinste die Verkäuferin, während sie den Betrag in ihre Kasse tippte.
Harry zuckte beide Schultern und lächelte. „Vielleicht."*
Als er den Schlüssel in seinem Schloss drehte, stieg ein unangenehmes Kribbeln in ihm nach oben. Er war sich sicher, Jane würde noch immer wütend sein - falls wütend überhaupt noch ein Ausdruck dafür war.
Den Strauß Rosen in der Hand zog er sich also seine Schuhe aus und ging zu seiner Frau ins Wohnzimmer, die mit düsterer Miene auf dem Sofa saß und fernsah. „Mommy!", rief Vic aus und sprang ihr ohne Vorwarnung auf den Schoß. „Schau mal, Daddy hat dir Blumen mitgebracht!"
Jane sah kurz auf und erhob sich schließlich, während Harry einige Schritte auf sie zu machte. „Es tut mir leid, Liebling", flüsterte er schließlich, während er sie etwas näher zu sich zog und ihr den Strauß überreichte. Jane lächelte. „Das wird nicht noch einmal vorkommen. Versprochen."
Jane's Lächeln wuchs zu einem Grinsen an. Sie gab Harry einen flüchtigen Kuss und betrachtete den üppigen Strauß in ihren Händen genau. „Wow", sagte sie schließlich, „Wann hast du mir das letzte Mal Blumen mitgebracht?"
„Lass uns nicht mehr streiten", Harry lächelte und küsste seine Frau kurz auf die Stirn. „Es tut mir leid. Ich liebe dich, Jane."
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Animus
FanficLouis und Harry haben Eins gemeinsam. Sie haben beide jeder eine fünfjährige Tochter. Der Eine lebt mit seiner Frau das Leben in einer angesehen Gesellschaftsschicht, der andere kämpft sich als Lehrer und alleinerziehender Vater durch die Mittelschi...