Sie ist ein Kind, Harry

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Louis seufzte.
Es fiel ihm schwer, morgens das Bett zu verlassen - und wenn er es dann endlich geschafft hatte, lag die Last der vergangenen Tage so schwer auf seiner Brust, dass jede Bewegung unendliche Anstrengungen für ihn bedeutete.
Er konnte nicht reden, er konnte nicht essen - Himmel, er konnte noch nicht einmal richtig atmen.
Zur Arbeit war er die ganze Woche nicht gegangen; heute war Freitag. Sein Arzt hatte ihn wegen einer akuten Belastungsreaktion krank geschrieben, ihm allerdings dringend dazu geraten, nicht zu lange zu Hause zu bleiben, da auch ein gut strukturierter Alltag dabei helfen konnte, sich wieder in ein normales Leben einzufinden. Normalität konnte durch die gewohnten Abläufe Stabilität vermitteln, weil man sah, dass sich nicht alles verändert hatte; dass es noch immer Dinge gab, die sich nicht verändert hatten.
Nach zwei Tagen wollte sein Arzt Louis deshalb wieder zur Arbeit schicken. Louis allerdings hatte sich noch nicht einmal dazu in der Lage gefühlt, seine Tochter in den Kindergarten zu bringen - wie sollte er da mit dreißig pubertierenden Teenagern zurechtkommen und ihnen Französisch beibringen?
Vergiss es.
Also hatte er ihn auch für den Rest der Woche krank geschrieben.
Und hier saß er nun also; an seinem Küchentisch, unrasiert und durch die fehlende Körperhygiene langsam tatsächlich unangenehm riechend, und mit einer Tasse Tee in der Hand, in der Hoffnung, sie könne die Kälte in seinem Inneren vertreiben.
Natürlich funktionierte das nicht.
Er stand also auf, ging zu seinem Sofa und schaltete den Fernseher ein, um zumindest für ein paar Minuten auf andere Gedanken zu kommen.
Sein schlechtes Gewissen Amy gegenüber steigerte sich ins Unermessliche: Zwar versuchte er, sich in ihrer Gegenwart zusammenzunehmen, sich nichts anmerken zu lassen - trotz allem war ihr aufgefallen, dass etwas mit ihm nicht stimmte.
Schon alleine die Tatsache, dass Dolores sie jeden Tag zum Kindergarten brachte und oft auch Nachmittags auf sie aufpasste; mit der Begründung, ihr Papa sei krank und müsse sich etwas hinlegen.
Liebevoll hatte Amy ihm abends einen Kuss auf die Wange gedrückt und gesagt, sie hoffe, er werde bad wieder gesund - seufzend hatte Louis ihr über das blonde Haar gestrichen und sie angelächelt. Er war so froh, sie zu haben.
Trotz allem war sie ein Kind, das rund um die Uhr intensive Pflege und Aufmerksamkeit brauchte. Die Kraft für all diese Dinge hatte er im Moment einfach nicht. Und er fühlte sich verdammt schlecht deswegen.
Er wusste, dass Amy keinesfalls unter seinen privaten Angelegenheiten leiden durfte - dass sie nicht davon beeinflusst werden sollte.
Und dann fiel ihm wieder ein, dass Victoria ihre beste Freundin war und der Tag, an dem sie wieder miteinander spielen wollten, bestimmt kommen würde.
Louis graute schon jetzt davor.

Harry holte Victoria an diesem Tag eine halbe Stunde später vom Kindergarten ab, weil der letzte Mandant keine Ruhe hatte geben wollen.
Mit größter Mühe hatte Harry sich bemüht, ruhig zu bleiben und nicht die Nerven zu verlieren, aber der junge Mann vor ihm hatte ihm das wahrlich nicht leicht gemacht.
Ursprünglich war er zu ihm gekommen, weil sein Nachbar ihn wegen Sachbeschädigung angezeigt hatte, nachdem er mit einer Dose Farbspray auf dessen Wagen losgegangen war. Natürlich - und das hatte Harry ihm in aller Deutlichkeit gesagt - hatte er keine besonders großen Chancen, straffrei aus dieser Geschichte hervorzugehen.
Nur leider hatte dieser Idiot das weder verstehen noch akzeptieren wollen, und Harry hatte alle Mühe gebraucht, um ihm das endlich klar zu machen.
So holte er seine Tochter an diesem Tag erst gegen halb sechs aus dem Kindergarten und beobachtete mit einem schwachen Lächeln im Gesicht, wie sie aufsprang und ihm in die Arme sprang. „Daddy!", rief sie aus, als sie ihn zur Tür hereinkommen sah, „Wo warst du denn so lange?"
„Ich musste etwas länger arbeiten", erklärte er und hob sie auf den Arm. Die Erzieherin trat mit freundlichem Gesichtsausdruck näher an ihn heran.
„Kein Problem, Harry. Wir haben uns noch ein wenig unterhalten."
„Ach ja?"
Victoria nickte eifrig. „Ich habe erzählt, dass ich morgen wieder reiten gehe."
Lächelnd setzte Harry seine Tochter wieder auf dem Boden ab. „Freust du dich schon?"
„Ja!", rief Victoria mit heller Stimme aus, „Können wir jetzt nach Hause fahren?"
Harry nickte, und als er mit seiner Tochter zu seinem Wagen ging, hielt sie einen Moment inne. „Daddy?"
„Ja, meine Kleine?"
Während er ihren Rucksack im Kofferraum verstaute, stand Victoria bittend vor ihm. „Können wir morgen nach der Reitstunde wieder zu Amy und Louis fahren?"
Ohne es selbst zu merken, hielt der Anwalt abrupt inne, blieb stehen und sah seine Tochter mit pochendem Herzen an. „Was?"
Verwirrt legte Victoria ihren Kopf zur Seite. „Ich wollte wissen, ob wir morgen Amy und Louis besuchen könnten. Das haben wir schon so lange nicht mehr gemacht."
Augenblicklich spürte Harry, wie ihm heiß wurde. Nervös zupfte er an seinem Hemdkragen, der sich plötzlich viel zu eng anfühlte.
„Äh...", stammelte er, während er sich wieder in Bewegung setzte. „Ich weiß nicht..."
„Bitte", bettelte seine Tochter und sah ihn aus den haselnussbraunen Augen an, die den seinen so verblüffend ähnlich waren. „Amy und ich haben schon alles besprochen. Louis wird sicher einverstanden sein."
Beinahe wäre Harry ein ‚Na, wenn du dich da mal nicht täuschst' über die Lippen gekommen, aber er schaffte es gerade noch, seine Zunge zu zügeln. Seufzend kramte er in seinen Taschen nach den Schlüsseln für seinen Wagen. „Na schön", gab er schließlich nach - er konnte die Sache zwischen Louis und ihm nicht auf dem Rücken ihrer Töchter austragen. Ihm war bewusst, dass er sie enttäuschen und verletzen würde, und das wollte er nicht. „Weiß Louis denn schon Bescheid?"
Victoria nickte. „Amy meinte, sie wird heute Abend mit ihm sprechen."
Während Harry Victoria auf den Rücksitz half, nahm er sich fest vor, Louis heute Abend selbst anzurufen, um die Sache mit ihm abzuklären - das würde ein verdammt anstrengender Tag werden.

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